T. C. Boyle versöhnt mit leichter Hand gedankliche Tiefe und Unterhaltung

Reif für die Insel? Es ist nicht allein die Wahl des Schauplatzes, die T. C. Boyle auf neue Wege führt. Sein 2011 veröffentlichter Roman „Wenn das Schlachten vorbei ist“ spielte auf einer der fünf Channel Islands, die bei Santa Barbara vor der südkalifornischen Küste einen Nationalpark bilden. Auch Boyles 14. Roman ist geografisch nicht weit von dort angesiedelt: „San Miguel“ verweist auf die westlichste der Kanalinseln, 27 Seemeilen vom Festland entfernt. Es ist allerdings mehr als die hohe See, was beide Geschichten voneinander trennt. Der ältere Roman ist vertrauter Boyle, „San Miguel“ Neuland für einen Erzähler, der seine Geschichten meist hochtourig begann, um das Tempo danach langsam zu steigern.

T. Coraghessan Boyle, inzwischen 64 Jahre alt, hat nicht zuletzt dank seiner Lese-Performances noch immer das Image eines Rockstars der amerikanischen Literatur − was ein wenig den Blick darauf verstellt, dass er einer ihrer bedeutendsten Vertreter ist und wie mit leichter Hand die scheinbar unvereinbaren Gegensätze von Unterhaltung und gedanklicher Tiefe versöhnt. Schon in seinem brillanten Debüt „Wassermusik“ (1982) jonglierte Boyle mit verschiedensten Figuren und kontrastierte die fantasievoll weiterfabulierte Geschichte des schottischen Entdeckungsreisenden Mungo Park, der um 1800 herum den Lauf des Niger erkundete, mit einer Worst-Case-Biografie à la Dickens, bevor er beide Lebensläufe im katastrophalen Finale zusammenführte. Bereits hier verwendete Boyle Erzähltechniken, auf die er gern zurückgriff: den kalkulierten Zusammenstoß verschiedener Lebenswirklichkeiten („América“, „Ein Freund der Erde“) – und die fiktive Annäherung an reale Figuren wie den Gesundheitsapostel John Harvey Kellogg („Willkommen in Wellville“), den Aufklärer Alfred Kinsey („Dr. Sex“) oder den visionären Architekten Frank Lloyd Wright („Die Frauen“) mithilfe von Personen aus deren Umfeld, die Boyle mit viel künstlerischer Freiheit gestaltete oder als omnipotenter Schöpfer sogar neu erschaffen hat. Das alles am liebsten mit viel Sarkasmus und einem so hohen Erzähltempo, dass seine Leser in den besten Momenten fast atemlos folgen müssen.

Für sein neuestes Werk aber hat Boyle den Fuß vom Gas genommen. „In ,San Miguel‘ wagte ich für meine Verhältnisse etwas vollkommen Neues und Experimentelles: den geradlinig erzählten Historienroman bar jeder Ironie“, hat er leicht spöttisch in einem Interview zum Buch gesagt. Und dass er mehr Wert auf das Innenleben seiner Figuren gelegt habe. Also keine Witzeleien, keine Überzeichnung, sondern der ernsthafte Versuch zu zeigen, wie es wirklich gewesen sein könnte, damals auf San Miguel.

Es scheint, als habe die Kargheit der Insel nicht nur ihre Bewohner, deren Überleben in einer widrigen Natur Boyle beschreibt, sondern auch den Autor selbst zur Mäßigung gezwungen. Tatsächlich ist San Miguel ein Ort, dem das Leben abgetrotzt werden muss. Die 38 Quadratkilometer große Insel, von den spanischen Kolonisatoren komplett abgeholzt, von amerikanischen Schafzüchtern überweidet, ist Stürmen ausgeliefert. Nicht einmal der Anbau von Gemüse ist möglich. Eine lebensfeindliche Natur, in der zwischen 1888 und 1942 zwei Familien versucht haben, ihr Auskommen zu finden. Boyle erzählt ihre Geschichte aus der Sicht der Frauen, deren Tagebuchaufzeichnungen er als Quelle genutzt hat.

Für die an der Schwindsucht leidende Marantha Waters ist San Miguel die Hölle. Die bürgerlichen Komfort und kultivierte Zerstreuung gewöhnte Frau begleitet ihren Ehemann Will, ohne so recht zu wissen, was sie erwartet. Er – ein desillusionierter Bürgerkriegsveteran – sieht auf der abgelegenen Insel die Chance, fernab der Zivilisation als Schafzüchter ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Marantha und ihre Adoptivtochter Edith werden zu Opfern dieser radikalen Lebensplanung. Marantha kann zwar schon nach etwa einem halben Jahr die gemeinsame Rückkehr aufs Festland erzwingen, hat jedoch nicht mehr lange zu leben. Edith muss nach dem Tod der Mutter ihre enthusiastisch wieder aufgenommene Schulkarriere abbrechen, weil ihr Stiefvater sie dazu zwingt, erneut mit ihm nach San Miguel zu gehen. Sie ist dort eine Gefangene, schafft es aber mit fremder Hilfe, ihrem verhassten Vater für immer zu entfliehen.

Anders als ihre Vorgängerinnen kommt Elise aus Liebe nach San Miguel. Nicht mehr ganz jung hat sie Herbert Lester in New York kennengelernt und geheiratet. Er lebte schon vorher allein auf der Insel und fühlt sich im Überschwang als „König von San Miguel“. Doch auch er wird lernen müssen, dass seine Unabhängigkeit eingebildet ist und dass Menschen ihr zivilisatorisches Gepäck immer bei sich tragen. Herbie und Elise bekommen zwei Töchter und verbringen zwölf Jahre zusammen auf San Miguel. Das Glück wird jedoch überschattet von Herbies manisch-depressivem Wesen. Nach seinem Suizid verlassen Elise und die Töchter die Insel. Einfühlsam und leise beschreibt Boyle die Frauenschicksale. Es liegt in der Natur der Sache, dass das Leben auf der Insel ereignisarm abläuft. Alltag statt Spektakel also - und eine Herausforderung für den Autor, der sich trotz des reduzierten Instrumentariums in der Essenz treu bleibt. „San Miguel“ ist eine Variation seines Dauerthemas, der Konfrontation des Menschen mit einer übermächtigen Natur.

„Ich hoffe, der Roman ist so ergreifend, wie er wahr ist“, hat Boyle gesagt. Diese Wirkung darf bezweifelt werden. „San Miguel“ ist auch als Roman ein karges Eiland. Für Boyle könnte er eine wichtige Etappe auf dem Weg zu neuen erzählerischen Horizonten sein.

T.C. Boyle

Achtung – wegen großer Nachfrage neuer Veranstaltungsort: AUDI MAX

Freitag, 20. September um 21.00 Uhr

Audimax 1, Von-Melle-Park 4

Eintrittskarten behalten ihre Gültigkeit. Ab sofort gibt es wieder Karten im Vorverkauf zu 16 €