Die Dinge ändern sich nicht von allein. Sondern weil es Menschen gibt, die sich einmischen. Ausstellungen und Projekte in Hamburgs Museen erzählen davon.

Die Kamera verändert den Blick. Vertrautes erscheint plötzlich neu, wirkt nicht mehr selbstverständlich. Ende Mai erkunden elf Jugendliche den Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg. Jeder von ihnen hält eine Kamera in der Hand. Einige haben Migrationshintergrund, wie es im Behördendeutsch heißt. Für alle ist Wilhelmsburg Heimat. Ist diese Heimat schön und lebenswert, ein Stadtteil zum Wohlfühlen?

Unter Anleitung des renommierten Fotografen Andreas Herzau durchstreifen sie ihren Bezirk, entdecken Vertrautes neu, und manches fällt ihnen dabei zum ersten Mal auf. Ein altes Sofa, das auf dem Gehweg achtlos abgestellt wurde. Triste Betonwände. Der schicke Eingangsbereich zur Internationalen Gartenschau. Ein türkischer Gemüsehändler, der seine Waren auslegt. Ein streitendes Paar vor dem Alten Deichhaus. Fünf Tage lang erkunden die Jugendlichen Wilhelmsburg und gewinnen beim Blick durch die Kamera nicht nur neue Ansichten, sondern auch neue Einsichten. Muss ich hier nur leben oder will ich es auch? Was sollte sich ändern? Kann ich etwas ändern? Sollte ich mich einmischen? Die bei diesem Workshop entstandenen Fotografien waren ab Ende Juni in einer Ausstellung in Dänemark zu sehen, gemeinsam mit Bildern vom Leben acht junger Menschen aus Sydhavnen, einem Kopenhagener Stadtteil, der sich in den letzten Jahren gleichfalls gravierend verändert hat. Vom 11. September an zeigt das Hamburg Museum die Ausstellung „Wilhelmsburg Sydhavnen“, die in Kooperation mit dem Københavns Museum entstanden ist. Bilder und Texte des Workshops sind außerdem auf dem Blog www.wirsindwilhelmsburg.de zu finden.

Um Freiheit und Individualität, Flexibilität, nachbarschaftliches Wohnen und nicht zuletzt um die Frage, was zu tun ist, damit sich die Schaffung von erschwinglichem Wohnraum mit urbaner Entwicklung verbinden lässt, geht es in der Ausstellung „The Vertical Village“ im Hamburg Museum. Am Beispiel der taiwanischen Metropole Taipeh hat sich das Architekturbüro MVRDV in die Städtebaudiskussion eingemischt. Das Büro aus Rotterdam demonstriert mit einer radikalen Vision, wie sich mit urbaner Verdichtung eine lebenswerte Alternative zur bestehenden anonymen, standardisierten Wohnblockarchitektur schaffen lässt. Und hier können sich die Besucher sogar selbst einmischen und das Modell ihres eigenen „vertikalen Dorfs“ entwickeln.

Aber zurück nach Wilhelmsburg, dem am Wasser gelegenen Hamburger Stadtteil, der trotz IBA und IGS noch immer als „sozialer Brennpunkt“ gilt. Dort mischt sich das Internationale Maritime Museum Hamburg (IMMH) schon seit einiger Zeit ganz massiv in den täglichen Lehrstoff einer Stadtteilschule ein, allerdings im Einvernehmen und in enger Abstimmung mit der Schulleitung. Gemeinsam mit Partnern wie dem Alfred-Wegener Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung und dem Klimabüro Polarmeer hat das IMMH mit Schülern und Lehrern der Stadtteilschule Wilhelmsburg das „Maritime Zentrum Elbinseln“ ins Leben gerufen.

Am Perlstieg entsteht zurzeit ein etwa 4000 Quadratmeter großer Lern- und Forschungsraum, in dem sich die Schule als „Forschungsschiff“ neu erfinden soll. Bis es so weit ist, können die Schüler an Projekten des Museums und der Forschungsinstitute mitarbeiten und zu Fragen von Klima und Meereskunde, Biologie und Ökologie unerwartete Zugänge finden und lernen, wie sich die Dinge zum Besseren ändern lassen.

Wer den Dingen ihren Lauf ließe, muss sich nicht wundern, wenn alles beim Alten bliebe. Aber die Dinge ändern sich, die Gesellschaft ist im Wandel. Weil es immer Menschen gab und geben wird, die sich einmischen. In vielen Teilen der Welt fällt das außerordentlich schwer, weil die wirtschaftliche und politische Macht in den Händen Weniger liegt. In der Volksrepublik China zum Beispiel tragen bis zu 200 Millionen rechtlose Menschen dazu bei, dass eine schmale Oberschicht Millionenvermögen anhäufen kann. Mit einer eindrucksvollen Foto-Ausstellung widmet sich das Museum der Arbeit in diesem Herbst nicht nur den chinesischen Wanderarbeitern, sondern den verschiedenen Formen der Wanderarbeit, die längst zu einem globalen Phänomen geworden ist. Fast überall sind Menschen gezwungen, ihre Heimat für Monate und manchmal für Jahre zu verlassen, um irgendwo in der Fremde Geld zu verdienen. Sie gehen weg, weil sie keine Perspektive haben und keine Möglichkeit finden, ihre Existenz zu sichern. Sieben Fotografen thematisieren die Wanderarbeit in China oder Thailand, aber ebenso in europäischen Ländern wie Moldawien, Italien oder auch in Deutschland.

Wer fotografiert, dokumentiert nicht nur Wirklichkeit, sondern interpretiert sie zugleich. Reportagefotografie ist präzise Beobachtung, sie verdichtet das Geschehen zu Bildern, die nicht nur abbilden, sondern auch erklären. Als der Amerikaner Steve McCurry 1984 das damals zwölfjährige afghanische Mädchen Sharbat Gula in einem Flüchtlingscamp aufnahm, gelang ihm ein Jahrhundertfoto. Das Porträt des ebenmäßig schönen Mädchens mit den flackernden grünen Augen, das zum Titelmotiv der „National Geographic“ wurde, berührte Millionen Menschen in aller Welt. Das Schicksal afghanischer Kriegsflüchtlinge trat damit aus der Anonymität und erhielt ein Gesicht, das seither niemand mehr vergessen kann. „Überwältigt vom Leben“, heißt eine Ausstellung im Museum für Kunst und Gewerbe, die mit 125 Arbeiten zeigt, wie McCurry aus den Krisengebieten der Welt berichtet, wie er Menschen beobachtet, Schicksalen nachspürt und Partei ergreift. Steve McCurry sieht sich nicht als Kriegsfotograf, sondern als „Kriegsrandfotograf“, ihm geht es nicht um das sensationelle Motiv, sondern um die Menschen, deren Nöte und Ängste, aber auch deren Mut und Überlebenswillen. Wenn McCurry zur Kamera greift, will er Verdrängtes und Verborgenes sichtbar machen, will Menschen, die in Not und Armut leben, ein Gesicht geben. Genaues Beobachten heißt für ihn, die Kunst und seine Publizität zu nutzen, um sich zu engagieren, sich einzumischen.

Eine Menschenmenge mitten in Kairo, von denen fast jeder Einzelne ein Smartphone oder eine Kamera in der Hand hält. Die ägyptische Revolution ist seit ihrem Beginn ein millionenfach von den Beteiligten fotografiertes und gefilmtes Ereignis. Protestierende reißen Bildnisse des Diktators Hosni Mubarak von Häuserfassaden herab und zweieinhalb Jahre später die Porträts des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi. Islamisten und Demokraten, Religiöse und Säkulare, Militärs und Intellektuelle stehen sich gegenüber, kämpfen, demonstrieren und mischen sich mit ihrer ganzen Existenz ins politische Geschehen ein, um ihre Vision einer Gesellschaft zu verwirklichen. Noch ist völlig ungewiss, wo Ägyptens Zukunft liegen wird. Sicher ist nur, dass jeder noch so kleine Schritt, jedes Ereignis und jede Veränderung zigmillionenfach fotografiert wird. Mit der Ausstellung „Kairo. Neue Bilder einer andauernden Revolution“ fragt das Museum für Kunst und Gewerbe, welche Rolle die von den sozialen Netzwerken weltweit verbreiteten Bilder haben und was sie von der klassischen Reportagefotografie unterscheidet.

Auch der Konzeptkünstler Santiago Sierra, den die Deichtorhallen in der Sammlung Falckenberg ab September mit „Skulptur, Fotografie, Film“ präsentieren, beobachtet nicht nur, er greift sehr direkt ein. Und scheut keine Provokation. Er schafft Kunst, die die Wirklichkeit in schmerzhafter Weise sinnbildhaft verdichtet. Zwangsprostitution, Billiglöhne, ökonomische Ausbeutung oder das Verdrängen der Vergangenheit sind Themen, die Sierra in Skulpturen und Performances inszeniert, fotografisch und filmisch dokumentiert und damit durchschaubar macht. Die Hamburger Ausstellung, die zuvor in der Kunsthalle Tübingen zu sehen war, ist die bisher größte Retrospektive über das Werk des bedeutenden spanischen Künstlers.

Wanderarbeiter. Fotografien einer neuen Arbeiterklasse, 15.11.2013 - 2.4.2014, Museum der Arbeit www.museum-der-arbeit.de

Kairo. Neue Bilder einer andauernden Revolution, 16.8. - 17.11 Museum für Kunst und Gewerbe, www.mkg-hamburg.de

Wilhelmsburg Sydhavnen, 25.9. - 20.10., Hamburgmuseum www.hamburgmuseum.de