Sie gelten in Europa als Grundlage der Moral im Zusammenleben. Auf ihnen fußen Gesetzgebung und ethisches Empfinden. „Du sollst nicht töten“, das leuchtet noch ein. Aber was heißt „nicht falsch Zeugnis reden“ in Zeiten von Facebook? Was sagen uns die Zehn Gebote heute? Wer sie heute interpretiert, muss versuchen, sie in die Gegenwart zu übersetzen. Das 7. Gebot, nach reformierter Zählung, interpretiert Stephan Loos, Leiter der Katholischen Akademie

Im Urlaub besichtigten wir mit der Familie ein Freilichtmuseum am Fuß der Schwäbischen Alb, in dem alte Bauernhäuser der Region restauriert wieder aufgebaut worden waren. Vor einem der Gebäude saß ein älteres Paar. Sie hatte ihre Hand auf die seine gelegt, beide schauten sie in die Ferne. Wie die beiden so dasaßen, wirkten sie wie leibhaftiges Inventar des Museums. Hier schienen nicht nur alte Häuser und Werkstätten, nicht nur Handwerksberufe und Trachten aus längst vergangenen Tagen ausgestellt zu sein, sondern auch ein Lebensmodell. Mit ihren 83 Jahren waren die beiden seit mehr als 60 Jahren verheiratet. Was auf den ersten Blick ein Teil der Museumslandschaft zu sein schien, mutete im Verhältnis zu den anderen Museumsbesuchern fast exotisch an: fremd und faszinierend zugleich. Fremd angesichts der unterschiedlichsten, weitestgehend jüngeren Paar- und Familienkonstellationen der anderen Besucher, faszinierend hingegen, weil die beiden auch nach so vielen Jahren der Ehe eine bemerkenswerte zärtliche Gelassenheit ausstrahlten. Was hatten sie schon gemeinsam erlebt, Momente des Glücks, aber sicherlich auch des Leids, welche Höhen und Tiefen – auch des Lebens zu zweit – hatten sie erfahren.

Fremd und faszinierend wirkt auch das siebte Gebot: Du sollst nicht ehebrechen. Faszinierend, weil es Ausdruck einer auch heute noch sehr präsenten Sehnsucht nach einer lebenslangen Liebe ist, zugleich fremd angesichts einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der diese ersehnte stabile Partnerschaft keineswegs selbstverständlich ist: Ehen werden gebrochen, Beziehungen zerbrechen.

Dies war auch schon zu Zeiten der Entstehung der Zehn Gebote im alten Israel so. Historisch gesehen sollte das Gebot die Rechtssicherheit im Fall eines Ehebruchs wahren und zielte auf die Sicherung legitimer Nachkommenschaft. Aber nur als rechtliche Anweisung oder moralisches Verbot verstanden, käme das Bemerkenswerte des siebten Gebots nicht in den Blick. Denn gerade in der Benennung einer Grenze eröffnet das Gebot – wie auch die anderen der Zehn Gebote – einen Freiheitsraum: jenen Freiheitsraum, in dem sich die Liebe zwischen zwei Menschen erst entfalten kann.

Das mag dem einen oder der anderen lusthemmend, weil nicht abwechslungsreich genug erscheinen. Aber das Gebot ist eine Antwort auf die Frage, wie die partnerschaftliche Beziehung zwischen zwei Menschen dauerhaft gelingen kann. Es geht um die Voraussetzungen des Gelingens. Die Antwort gibt das Gebot jedoch nicht im Sinne detaillierter ethischer Anweisungen, sondern in Form einer recht formalen Anzeige: nicht die Ehe zu brechen. Das heißt, dass die Liebe zwischen zwei Menschen nur dort entstehen und sich dauerhaft lebensgeschichtlich entfalten kann, wo sich beide unbedingt, und das heißt auch unbefristet, annehmen und anerkennen. Das Vertrauen, dass der andere mich und nur mich meint, und dies vorbehaltlos – in guten wie in schlechten Zeiten –, eröffnet erst den Raum für die dauerhafte gemeinsame und je eigene Zukunft.

Dass dies ein hoher Anspruch ist, dem wir Menschen allzu oft auch nicht gerecht werden, angesichts dessen wir versagen, ist unbenommen. Das Scheitern gehört zu unserer Existenz. Deswegen bedürfen wir der Barmherzigkeit und Vergebung. Aber angesichts dieser Erfahrung den Anspruch herunterzuschrauben hieße auch den Wunsch und die Möglichkeit einer liebevollen, verlässlichen, weil auf Dauer ausgerichteten Beziehung aufzugeben.