Sie gelten in Europa als Grundlage der Moral im Zusammenleben. Auf ihnen fußen Gesetzgebung und ethisches Empfinden. “Du sollst nicht ehebrechen“, das leuchtet noch ein. Aber was heißt “nicht falsch Zeugnis reden“ in Zeiten von Facebook? Was sagen uns die Zehn Gebote heute? Wer sie heute interpretiert, muss versuchen, sie in die Gegenwart zu übersetzen. Das sechste Gebot, nach reformierter Zählung, interpretiert von Dr. Jörg Herrmann, Direktor der Evangelischen Akademie der Nordkirche

Im Mai hat in Berlin ein Prozess gegen sechs junge Männer begonnen. Ihnen wird vorgeworfen den 20-jährigen Jonny K. in der Nacht zum 14. Oktober 2012 auf dem Berliner Alexanderplatz zu Tode geprügelt zu haben. Jonny K. wurde durch Tritte gegen den Kopf so schwer verletzt, dass er einen Tag nach der Attacke an Gehirnblutungen starb. Der Anlass: ein nichtiger Streit. Wir kennen ähnliche Geschichten auch aus Hamburg. Sie ereignen sich im Zentrum unserer Städte, unter den Augen von Überwachungskameras, manchmal auch vor den Augen von Passanten und Fahrgästen des öffentlichen Nahverkehrs. Sie zeigen, dass tödliche Gewalt jetzt und hier aufbrechen kann. Ebenso wie in Boston, Kabul, Damaskus oder in New York.

Tötende Gewalt ist kein Problem, das zurückliegt, das wir mit den Kreuzzügen, mit Auschwitz, Stalingrad und Srebrenica hinter uns gelassen hätten. Und auch die mit diesen Ortsnamen benannten Verbrechen des 20. Jahrhunderts sind noch nicht lange her und lassen an der Hoffnung auf moralischen Fortschritt zweifeln. Tausende von Jahren nach der Urszene tötender Gewalt, dem Brudermord von Kain an Abel, blicken wir auf ein Jahrhundert der Massenmorde zurück. Auch darum steht das Tötungsverbot zu Recht nach wie vor im Zentrum unserer Ethik und Kultur. "Du sollst nicht töten!" Eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Muss das einem Leser gesagt werden, der bei einer Tasse Tee sein Abendblatt durchblättert? Ja, ich denke, es ist gut, daran zu erinnern. Denn, auch davon weiß die Bibel zu berichten, jeder Mensch ist fähig zu hassen, Gewalt auszuüben und am Ende zu töten. Sicher, es macht einen Unterschied, ob ich jemandem die Pest an den Hals wünsche oder ihn erschieße. Beim Tod gibt es kein Zurück, der Tod ist endgültig. Doch zwischen Hass und tötender Gewalt besteht ein Zusammenhang. Auch der kommt mit dem Tötungsverbot in den Blick. Und damit die vielen Vorstufen des physischen Tötens, mit denen Menschen jeden Tag das Recht anderer auf Leben und Entfaltung einschränken, beschneiden und zunichtemachen.

Bertolt Brecht hat es einmal so ausgedrückt: "Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Suizid treiben, einen in den Krieg führen. Nur weniges davon ist in unserem Staat verboten." Wenn man dann noch auf bestimmte Gruppen innerhalb der Gesellschaft herabblickt und sie für minderwertig hält, ist die Grenze zu physischer Gewalt noch schneller überschritten. "Django unchained", der Film von Quentin Tarantino, hat unlängst wieder daran erinnert: Bis vor nicht allzu langer Zeit waren viele Weiße der Ansicht, dass Schwarze keine vollwertigen Menschen seien, sondern eher Tiere. Deshalb konnte man sie ohne Skrupel versklaven, schlagen, im Zweifel töten und noch lange diskriminieren.

Und bei uns? Nach Ansicht der Nazis waren die Juden minderwertig und zu vernichten. Darauf, dass solche gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit nach wie vor bei uns vorkommt, verweist nicht zuletzt der gerade begonnene Prozess gegen Beate Zschäpe und vier Unterstützer ihrer Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund. Es geht um zehnfachen rassistischen Mord: ein Anschlag auf die Einwanderungsgesellschaft. Und eine perfide Missachtung des sechsten Gebots. "Du sollst nicht töten!"