mit Propst Johann Hinrich Claussen über den Weg von der Mitte an den Rand und umgekehrt

Der neue Papst hat gesagt, die Kirche solle "an die Ränder gehen". Das hat mir sofort eingeleuchtet. Beim weiteren Nachdenken über diesen schönen Satz ging mir aber auf, dass dies gar nicht so einfach ist. Zum einen kann die Kirche nicht gehen, denn sie ist eine Institution. Sich mit zwei Beinen in Bewegung setzen können nur echte Menschen. Aber selbst für bewegungsfreundliche Christen ist es nicht leicht, zu den Rändern vorzustoßen. Das sehe ich regelmäßig an mir selbst. Der Weg an den Rand ist oft verstellt. Das hat viele Gründe: all die Arbeit, die Verantwortung für die Familie, die Tagesroutinen, und dann will man sich ja auch mal entspannen. Es braucht schon einen Anlass, um sich auf den Weg zu machen. Und es braucht einen Wegweiser.

Zum Glück begegnet mir beides regelmäßig. Das letzte Mal waren dies die BürgerStiftung-Hamburger und der Kinderschutzbund. Für die BürgerStiftung sollte ich in einer Jury einen Preis für soziales Engagement vergeben. Dazu sollte ich Projekte des Kinderschutzbundes in den Wohnunterkünften für Flüchtlinge und Obdachlose besuchen.

So kam ich in eine Großunterkunft nach Billstedt. Dort betreibt der Kinderschutzbund unter anderem ein Müttercafé. Eine Hebamme mit ihrem Team lädt junge Mütter, die überwiegend aus afrikanischen Ländern und Afghanistan kommen, mit ihren kleinen Kindern ein: zu Kaffee und Brötchen, Gespräch und Beratung. Viele von ihnen sind verunsichert, isoliert, traumatisiert. Wie ich so in diesem Müttercafé sitze und beobachte, wie freundlich die Hebamme und ihre Kolleginnen mit Worten, Händen, Füßen und einem großen Lächeln auf die Mütter und Kinder zugehen, wie sie Freude an ihrer Arbeit haben, obwohl diese belastend ist, da habe ich mich gefreut. Zugleich habe ich mich ein bisschen darüber geärgert, dass ich einen äußeren Anlass gebraucht habe, um hierherzukommen. Als ich später wieder zu Hause war, habe ich mich gefragt, was ich da eigentlich gemacht habe: Bin ich an den Rand gegangen? Das würde ja voraussetzen, dass ich mich normalerweise in der Mitte befinde. Vielleicht aber ist es ja umgekehrt, nämlich dass ich auf dem Weg von meinem Pastorat in Harvestehude zur Wohnunterkunft nach Billstedt vom Rand in die Mitte gefahren bin.