Die Geschichte der „Singenden Revolution“ im Baltikum klingt wie ein schöner Traum

Brennende Häuser und Städte. Eine Guillotine, die krachend ihr blutiges Werk verrichtet. Und das aufgebrachte Volk zieht grölend über die Straßen. Solche Bilder und Klänge schießen einem beim Stichwort „Revolution“ durch den Kopf. Aber Tausende Menschen, die sich friedlich an den Händen halten und dazu Lieder singen? Nee, nee. Zu schön, um wahr zu sein!

Könnte man meinen. Und läge damit gründlich daneben. Denn was nach Kirchentagsidyll und Politkitsch riecht, ist eine historische Tatsache. Am Abend des 23. August 1989, um 19 Uhr, bildeten rund zwei Millionen Menschen eine Kette, die sich über 600 Kilometer erstreckte und das ganze Baltikum umspannte: Sie reichte von Tallinn an der estnischen Nordküste über Lettland bis in den Südosten Litauens. Eine Viertelstunde lang fassten sich Esten, Letten und Litauer schweigend an den Händen, um danach ihre Volkslieder anzustimmen. Sie sangen Stücke wie „Mu isamaa on minu arm“ („Mein Heimatland ist meine Liebe“) und „Dievs, sveti Latviju“ („Gott segne Lettland“) und schwenkten Nationalflaggen.

Mit der Kraft ihrer Melodien gelang es den baltischen Mutbürgern, sich aus der sowjetischen Umklammerung zu befreien. Auf ihrem Weg in die Autonomie ließen sie sich nicht mehr aufhalten. Nach den ersten freien Wahlen in Litauen erklärte der neue Präsident, Vytautas Landsbergis – ein Musikwissenschaftler übrigens – im März 1990 die Unabhängigkeit. Wenig später sagten sich auch Lettland und Estland von der ungeliebten Sowjetherrschaft los.

Dieser einmalige historische Prozess ist als „Singende Revolution“ in die Geschichte eingegangen. Ein Beispiel dafür, welche gesellschaftliche Sprengkraft Musik entfalten kann – wenn sie im Leben der Menschen verwurzelt ist.

Für die baltischen Bürgerinnen und Bürger war der grenzübergreifende Chor der Höhepunkt einer langen Entwicklung. Schon 1988, ein Jahr vor der riesigen Menschenkette, waren in Tallinn 300.000 Menschen auf einem der legendären Sängerfeste zusammengekommen, um für ihre Unabhängigkeit zu demonstrieren. Diese Sänger- (oder auch Lieder-)feste haben in allen drei baltischen Staaten eine lange Tradition.

Das erste fand 1869 in Estland statt, wo das Festival auf den schönen Namen Üdlaulupidu hört. 1873 folgten die lettischen Nachbarn, 1924 die Litauer. Alle Feste sind seither ein fester Bestandteil des baltischen Kulturlebens. 2003 wurden sie von der Unesco als immaterielles Kulturerbe anerkannt.

Während der Sowjetherrschaft beäugten die Machthaber das chorische Treiben der Balten misstrauisch und zwangen die Veranstalter, auch Chöre der Roten Armee auftreten zu lassen. Aber das änderte nichts am subversiven Charakter der Feste. Der gemeinsame Gesang war ein wichtiger Träger der kulturellen Identität. Nicht nur bei den lange geplanten Massenevents, sondern auch im Alltag: Manchmal fingen die Menschen ganz spontan im Bus an, ihre Volkslieder zu trällern, und narrten so die Zensoren.

Die besondere Bedeutung des Gesangs lässt sich über mehrere Jahrhunderte zurückverfolgen und hat die musikalische Entwicklung aller drei baltischer Staaten geprägt. In Estland gab es schon seit dem Jahrtausend vor Christus Runenlieder, in denen der Gesang mit Rufen, Zaubersprüchen und nachgeahmten Naturlauten durchmischt war. Im Nordosten Litauens entstanden etwas später die rätselhaften„Sutartines“: mehrstimmige Lieder mit eigentümlichen kontrapunktischen Verflechtungen. Bei den Letten entdeckten die Musikethnologen am Sprechgesang orientierte Melodien für Jahres- und Familienfeste, aber auch jüngere Schichten der Vokalmusik, in der sich deutsche, polnische und russische Einflüsse nachweisen lassen.

Die Anfänge der sogenannten Kunstmusik waren von der Christianisierung angestoßen: Mit den Mönchen und Missionaren des Mittelalters kamen die ersten Choräle und religiösen Orgelwerke ins Baltikum.

Im 19. Jahrhundert schwappte die Welle der Wiener Klassik auch gen Nordosten. Für die Entwicklung der lettischen Musiklandschaft hat auch Richard Wagner eine wichtige Rolle gespielt, als er 1837 bis 1839 als Kapellmeister am Rigaer Stadttheater wirkte .

Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurde das Kulturleben immer professioneller. Viele Musiker aus den drei baltischen Staaten machten sich auf die Suche nach einer eigenen Klangsprache. Das gilt etwa für Heino Eller (1887–1970), eine Vaterfigur der estnischen Kunstmusik, und seinen Landsmann Veljo Tormis (*1930) der über 500 Chorwerke geschrieben hat.

Der 1946 geborene Lette Peteris Vasks beschwört mit spätromantischem Ton häufig die Naturschönheit seiner Heimat. Das ist ein weiterer Wesenszug der baltischen Musik: Die meisten Komponisten scheuen sich nicht, tonal zu schreiben und den Hörer auch mit schlichten Klängen zu berühren. Das gilt ganz besonders für Arvo Pärt, den bekanntesten baltischen Zeitgenossen. Mit seinem „Tintinnabuli“-Stil der sanften Enthaltsamkeit stillt der 77-jährige Este unser Bedürfnis nach Ruhe und spiritueller Besinnung. Auch seine Musik ist von vokalen Vorbildern geprägt. Eine singende Revolution gegen den Lärm der Welt.