Es geht in einer Gesellschaft immer nur dann voran, wenn jene, die das Neue wagen, stärker sind als die anderen, denen es allein um die Erhaltung des Bestehenden geht. Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften ist sicher nicht, wie Karl Marx und Friedrich Engels Mitte des 19. Jahrhunderts meinten, eine Geschichte von Klassenkämpfen, aber eine Abfolge von Neuanfängen. Aufbruch heißt das Schlüsselwort der Kulturgeschichte. Aufbruch ist auch das Titelthema dieser erstmals völlig neu gestalteten Ausgabe der Museumswelt Hamburg. In der Entdeckergalerie im ersten Deck des Maritimen Museums sind die Bildnisse großer Seefahrer versammelt. Der Hamburger Bildhauer Ulrich Rölfing hat die Büsten von Christoph Columbus, Vasco da Gama, James Cook aber auch des Admirals Zheng He gestaltet. Der Chinese war im 15. Jahrhundert mit einer riesigen Flotte aufgebrochen, um - wie in einer erst in den 1930er-Jahren entdeckten Inschrift vermerkt ist - zu den Ländern "jenseits des Horizonts zu segeln, bis ans Ende der Welt". Das Ziel war utopisch, der Weg aber revolutionär. Auch Christoph Columbus hat sein eigentliches Ziel nicht erreicht, Europa aber neue Horizonte eröffnet. Die Porträtbüsten im Kaispeicher B sind dennoch kein Ort der Heldenverehrung, denn sie erinnern nicht an Lichtgestalten, sondern an bedeutende, gleichwohl widersprüchliche Persönlichkeiten der Menschheitsgeschichte. Jeder Aufbruch bringt Veränderung, aber nicht jede Veränderung wirkt sich nur positiv aus. Und oft haben sogar notwendige Entwicklungen hässliche Kehrseiten. Bedingt doch die Entdeckungstat der einen die Unterwerfung der anderen. Die unbestreitbare kulturelle Leistung der Entdecker in der Neuen Welt, die ja nur für die Europäer neu war, zog zugleich eine fast unvorstellbare Kulturzerstörung der präkolumbischen Gesellschaften nach sich.

Kostbarkeiten der vorspanischen Andenvölker, die den Zerstörungen der europäischen Eroberer entgangen sind, begegnen uns im Museum für Völkerkunde in der Inka-Galerie und ihren Schatzkammern. Wer sich im Erdgeschoss des vor etwa 100 Jahren fertiggestellten Museumsgebäudes an der Rothenbaumchaussee zur Bibliothek begibt, trifft dort unmittelbar vor dem Eingang auf die Figur der vielleicht populärsten hinduistischen Gottheit. Ganesha heißt der Elefantengott, dessen Bildnis hier regelmäßig mit Blumen und Kränzen geschmückt wird. Der Dickhäuter mit Rüssel und Krone auf dem Kopf ist im Hinduismus allgegenwärtig. Kein Wunder, dass sich auch in der aktuellen Ausstellung "Der Götterhimmel Indiens" mit Kunstwerken, die der deutsche Kaufmann und Indienkenner Ferdinand K. Heller auf dem Subkontinent erworben und dem Hamburger Museum geschenkt hat, zahlreiche Ganesha-Figuren finden. Ganesha ist für vieles zuständig, die Gläubigen wenden sich an ihn, wenn sie ein Haus bauen oder eine Reise antreten, eine Prüfung zu bestehen haben oder eine geschäftliche Transaktion planen. Ganesha ist zugänglich, gilt als freundlich und hilfsbereit. Er hat ein Herz sowohl für die schönen Künste als auch für die Sorgen der kleinen Leute. Am Morgen eines jeden neuen Tages ruft man ihn mit einem Gebet an, denn vor allem ist Ganesha der Schutzherr des Neubeginns. Der Elefantengott bietet den Menschen in Indien Lebenshilfe, wenn er sie daran erinnert, dass der Aufbruch aus dem Gewohnten und das Wagnis des Neuen immer wieder Chancen eröffnen.

Oft ist es aber die pure Not, die Menschen dazu bringt, einen Aufbruch zu wagen. Von der Mitte des 19. bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein war Hamburg eine Schleuse für Angehörige vieler Nationen, die ihrer Heimat der Rücken kehren wollten, um in die Neue Welt aufzubrechen. Für etwa fünf Millionen Menschen, die in ihren Herkunftsländern keine materielle Existenzmöglichkeit mehr sahen oder als Juden gedemütigt, beraubt, verfolgt und an Leib und Leben bedroht waren, wurde die Hansestadt damals das Tor zu einer Welt, in der sie frei von Not und Bedrängung zu leben hofften. Für die Hamburg-Amerikanische-Paketfahrt-Actien-Gesellschaft (Hapag) war der Transport der Auswanderer ein profitables Geschäft. Albert Ballin, seit 1899 Hapag-Generaldirektor, ließ auf der Elbinsel Veddel die sogenannten Auswandererhallen erbauen, die 1901 eröffnet wurden. Wie in einer kleinen Stadt konnten die Emigranten hier die für die Überfahrt notwendigen Formalitäten in einem geordneten Verfahren absolvieren. Seit 2007 befindet sich auf dem historischen Gelände der Auswandererhallen das Erlebnismuseum BallinStadt, das mit Bildern, Dokumenten und multimedialen Inszenierungen über die historischen Gründe der Auswanderung, über die Umstände der Überfahrt und die kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Folgen für die Neue Welt informiert. Was der massenhafte Aufbruch für Europa und Amerika, vor allem aber für die Menschen bedeutet hat, die dieses Wagnis oft mit dem Mut der Verzweiflung eingingen - in der BallinStadt kann man es erfahren. Es gibt Zeiten, in denen der Aufbruch sozusagen in der Luft zu liegen scheint. Manchmal erfasst dieser Veränderungsdruck ganze Gesellschaften und Länder. Revolution bedeutet nicht nur Gewalt, sondern vor allem Umbruch. Anfang des 20. Jahrhunderts war das zaristische Russland politisch, wirtschaftlich und moralisch am Ende. Aus dieser Misere erwuchs ein enormer Aufbruch. Es ging um eine neue Gesellschaft, völlig neue Formen des Zusammenlebens, eine radikal veränderte Politik und auch um eine andere, eine avantgardistische Kultur. Alexander Michailowitsch Rodtschenko (1891-1956) war einer jener Künstler, die diese Umwälzung vorantrieben.

Das Bucerius Kunst Forum zeigt in seiner Ausstellung "Rodtschenko. Eine neue Zeit" anhand von Gemälden, Collagen, Fotomontagen, Fotografien, Plakaten, Typografien und Skulpturen, wie dieser russische Künstler die Konventionen seiner Zeit über den Haufen warf, alles infrage stellte und völlig neue Wege ging. Für seine Fotografien wählte er Perspektiven, die konkrete Bildmotive in abstrakte Kompositionen verwandelten. Unglaublich, zu welcher Innovation russische Avantgardisten wie Alexander Rodtschenko innerhalb weniger Jahre fähig waren. Unfassbar aber auch, wie dieser Aufbruch von den kommunistischen Machthabern der Sowjetunion bald ausgebremst wurde. Die Künstler, die eine neue Kultur für eine neue Gesellschaft schaffen wollten, scheiterten an der Realität eines Landes, das allzu schnell von Stalins Repression erfasst wurde. Mit seiner Utopie, die Kunst aus den Museen zu holen und in den Dienst der neuen Gesellschaft zu stellen, ist Alexander Rodtschenko tragisch gescheitert. Die Hamburger Ausstellung zeigt aber, dass er mit seinem ästhetischen Aufbruch Impulse gab, die bis heute wichtig geblieben sind. Aber darf man überhaupt scheitern? Ist jeder Misserfolg nur negativ und vergeblich? Oder steckt im Scheitern auch ein positiver Kern, eine Erfahrung, die weiter führt? Der irische Schriftsteller Samuel Beckett sah im Misslingen eines Projekts ein kreatives Moment, das weiterführt. "Wieder versuchen / Wieder scheitern / Besser scheitern", schrieb der Autor, der sich bei seinem Deutschlandbesuch 1936 tagelang in der Hamburger Kunsthalle aufgehalten hatte. "Besser scheitern" heißt auch der Titel einer Ausstellung in der Galerie der Gegenwart mit Filmen und Videos, die anhand von zahlreichen künstlerischen Positionen aufzeigt, wie das Scheitern den kreativen Prozess beeinflusst. Der Niederländer Bas Jan Ader (1942-1975) hat sich mit dem Fallen und dem Schiffbruch als zentralen Sinnbildern des Scheiterns auseinandergesetzt. Auf 16-Millimeter-Filmen zeigt Ader, wie er vom Dach eines Hauses oder von einem Baum in einen Fluss fällt. Für sein Kunstprojekt "In Search of the Miraculous" hat er wohl schließlich sogar mit dem Leben bezahlt: Im Juli 1975 wagte er von Cape Cod mit einem winzigen Segelboot auf See einen Aufbruch Richtung England. Seither ist er verschollen.

Die Zeit der Entdecker, dauerhaft, Internationales Maritimes Museum Hamburg, Deck 1, Koreastraße 1, 20457 Hamburg, www.immh.de

Rodtschenko. Eine neue Zeit. 8.6. - 15.9., Bucerius Kunst Forum, Rathausmarkt, 20095 Hamburg, www.buceriuskunstforum.de

Der Götterhimmel Indiens: Kunstwerke der Sammlung F. K. Heller, bis 3.11.,Museum für Völkerkunde Rothenbaumchaussee 64, 20148 Hambur, www.voelkerkundemuseum.com