Sie gelten in Europa als Grundlage der Moral im Zusammenleben. Auf ihnen fußen Gesetzgebung und ethisches Empfinden. “Du sollst nicht töten“, das leuchtet noch ein. Aber was heißt “nicht falsch Zeugnis reden“ in Zeiten von Facebook? Was sagen uns die Zehn Gebote heute? Wer sie heute deutet, muss versuchen, sie in die Gegenwart zu übersetzen. Das fünfte Gebot, nach reformierter Zählung, interpretiert Stephan Loos, Leiter der Katholischen Akademie

Als ich meinem neunjährigen Sohn erzählte, dass ich einen kurzen Kommentar zum 5. Gebot "Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren" schreibe, fragte er mich: "Wie geht das, Vater und Mutter ehren?" Er wisse, dass Sportler für ihre Leistungen geehrt werden, und habe auch schon das "Ehre sei Gott in der Höhe" im Gottesdienst gesungen. Wie er aber nun seine Eltern konkret zu ehren habe, solle ich ihm bitte erklären, denn das sei ihm nicht so ohne Weiteres klar. Da stand ich nun als Vater und Theologe und war zunächst sprachlos. Die naheliegenden Fragen sind oft am schwierigsten zu beantworten.

Der Hinweis, dass das Gebot im biblischen Kontext keine Anweisung für kleine Kinder war, den Eltern zu gehorchen, sondern sich an die Erwachsenen richtete, stellte meinen Sohn nur bedingt zufrieden. Seine Frage, wie ehre ich meine Eltern, und meine Frage, welche Ehrung erwarte und wünsche ich mir als Vater von meinen Kindern, blieben offen.

Der erneute Blick zurück zu den Ursprüngen des fünften Gebotes verdeutlicht, dass die Israeliten mit dem Gebot vor allem die Aufforderung verbanden, dass sie für ihre Eltern im Alter Sorge zu tragen hatten. Es ging damals nicht allein darum, die Eltern zu respektieren, sondern in einer Zeit ohne Renten- und Sozialversicherung ihr Wohl sicherzustellen. Die Eltern zu ehren hieß, für Nahrung, Kleidung und Wohnung zu sorgen und schließlich auch eine würdige Bestattung zu gewährleisten.

Im fünften Gebot kommt eine Art Generationenvertrag zum Ausdruck: wie die Eltern für ihre Kinder gesorgt haben, so sollen die erwachsenen Kinder in Dankbarkeit auch für ihre Eltern sorgen. In einem solchen Verständnis verliert das Wort "Ehre" seine eigenartige Fremdheit, denn es geht nicht um Gehorsam oder die äußerliche Anerkennung der größeren Macht der Eltern, sondern um eine Haltung der Wertschätzung, des Respekts und der wechselseitigen Anerkennung. Im Hebräischen bedeutet nämlich das Wort "ehren", jemandem sein Gewicht zu lassen oder ihm Gewicht zu verleihen. Mit diesem Verständnis hat das Gebot bis heute an Aktualität nicht verloren.

Der Schriftsteller Arno Geiger belegt dies in seiner Erzählung über seinen an Alzheimer erkrankten Vater auf beeindruckende Weise. Er nahm sich die Zeit und begleitete den Vater in dessen fortschreitender Krankheit, bemühte sich mit Geduld und Humor, den Vater in seiner eigentümlichen Welt zu verstehen, und entdeckte in ihm den "alten König im Exil". Diese Formulierung verdeutlicht, was es heißt, den Vater in Ehren zu halten. Denn das Wort "König" bringt jene Distanz und Hierarchie zum Ausdruck, die zwischen dem besteht, der ehrt, und dem, der geehrt wird. Gleichzeitig ist es eine liebevolle Bemerkung: Der Sohn lässt sich auf die Welt ein, wie der Vater sie wahrnimmt, statt ihm eine Welt aufzuzwingen, die nicht die seine ist.

Angesichts des krankheitsbedingten fortschreitenden Verlusts der Erinnerung lässt der Sohn dem Vater sein Gewicht, schenkt ihm Aufmerksamkeit und Anerkennung, die sonst Alten und Kranken in unserer Gesellschaft oft so schnell abgesprochen wird.

Ich erzählte meinem Sohn von der Beziehung Arnold Geigers zu seinem Vater, dem "alten König im Exil", und erklärte am Beispiel der Geschichte, was es heißt, Vater und Mutter zu ehren. Danach war er zufrieden. Nur das Adjektiv "alt" wollte er mit Blick auf seinen Vater nicht gelten lassen, und ein König sei ich ja auch nicht. Als ich ihm daraufhin den Schlusssatz von Geigers Buch vorlas: "Wer lange genug wartet, kann König werden", mussten wir beide schmunzeln.

Vortragsreihe "Die 10 Gebote" an St. Katharinen, Katharinenkirchhof 1, der Eintritt ist frei. Infos: www.katharinen-hamburg.de