Die Expertinnen Mareile Krause und Sangeeta Fager über die aktuelle Armutsdebatte und Einwanderungswelle

Sangeeta Fager ist im Diakonischen Werk Referentin des Fachbereichs Weltweite Diakonie - sie ist dort zuständig für Partnerschaftsarbeit mit Osteuropa. Dr. Mareile Krause ist Leiterin der Abteilung Fortbildung, Organisations- und Personalentwicklung im Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung und entwickelte die Qualifizierung von Sinti und Roma zu Bildungsberatern.

Hamburger Abendblatt:

Zurzeit herrscht eine sehr emotionale Debatte um den vermehrten Zuzug von Roma nach Deutschland. Wie ist die Situation in Hamburg?

Sangeeta Fager:

Bei den Menschen, aus Rumänien und Bulgarien, die Kontakt zu Beratungsstellen des Diakonischen Werkes suchen, handelt es sich oft um Roma mit unterschiedlichem Bildungsstandard. Die Menschen erzählen aber nicht gerne, dass sie Roma sind, weil sie Angst vor den negativen Assoziationen haben. Einige von ihnen kommen aus einer der ärmsten Regionen in Rumänien. Seit dort die landwirtschaftlichen Genossenschaften aufgelöst wurden, müssen sie andere Arbeit suchen - eine Chance sehen sie in der Auswanderung, denn sie sind hoch motiviert zu arbeiten.

Laut der Sozialbehörde sind etwa 5000 Rumänen und 5000 Bulgaren in Hamburg. Gibt es genauere Zahlen, wie viele Roma darunter sind?

Mareile Krause:

Konkrete Zahlen habe ich nicht. Um den Menschen gerecht zu werden, muss man wissen, dass es verschiedene Gruppen gibt, die zu verschiedenen Zeiten nach Westeuropa einwanderten. Während nach dem Zerfall des früheren Jugoslawiens viele Roma vor Verfolgung und Diskriminierung nach Westeuropa flohen, ist es jetzt die wirtschaftliche Krise, die Arbeitsmigranten aus Rumänien und Bulgarien nach Deutschland führt. Neben diesen jüngeren Einwanderungswellen kamen schon im 15. Jahrhundert die aus dem norwestindischen Punjab stammenden Sinti nach Europa, ab dem 19. Jahrhundert folgten weitere Roma-Gruppen. Viele von ihnen sind hier integriert, beherrschen die Sprache und haben zum Teil die deutsche Staatsangehörigkeit.

Und wie erleben die Roma und Sinti, die hier schon lange leben, die jüngste Einwanderungswelle?

Fager:

Gerade diese Menschen befürchten, dass das zarte Pflänzchen der differenzierten Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte und Kultur in Deutschland wieder unter neu aufkommenden Stigmatisierungen leidet.

Unter welchen Bedingungen leben denn die Neuankömmlinge hier?

Fager:

Sie sind oft arm, haben keine Wohnung, übernachten im Auto, auf Dachböden, in Kellern, oder ihnen werden Matratzen in Mehrbett-Zimmern vermietet. Sie müssen ihre Bleibe dann frühmorgens verlassen und dürfen nicht vor 21 Uhr zurückkehren. Das heißt, die Leute sind gezwungen, sich auf der Straße aufzuhalten, ihr Leben draußen zu organisieren.

Und dann tauchen die alten Vorurteile wieder auf?

Fager:

Zu viele Menschen in einer zu kleinen Wohnung mit Folgen wie mehr Lärm im Haus, mehr Müll, der Zuzug in soziale Brennpunkte, all das erzeugt natürlich Stress unter Anwohnern. Das ist nicht romaspezifisch, dennoch entsteht sofort das negative Bild von "den Zigeunern". Es wird auf die ganze Volksgruppe projiziert, auch wenn es Hunderte Fälle gibt, die dem Klischee nicht entsprechen.

Krause:

Und diese scheinbare Bestätigung der Vorurteile passt in die Zeit. Es herrscht das Gefühl, wir werden überflutet, das Land ist zu voll, und dann brauche ich ja einen schwarzen Peter für die schwieriger werdende Situation. Wenn der Arbeitsmarkt dichter ist, wird viel stärker auf die Migranten geschaut, die einem vielleicht die Arbeitsplätze wegnehmen.

Auffällig ist der starke Familienzusammenhalt. Welche Funktion hat er?

Krause:

Gerade die Minderheitensituation der Roma und Sinti, Vertreibung und Verfolgung haben zu einer Familienstruktur geführt, die Verlässlichkeit darstellt. Die Familie ist Altersversorgung, Bildungseinrichtung und Schutz. Die Roma und Sinti haben keine Lobby, keinen eigenen Staat. Also ist die Familie die Institution, wo ich all das lerne, was ich brauche. Das bedeutet auch: Wenn die Familie ihre Kinder braucht, geht das vor.

Ist das auch ein Grund, warum die Kinder nicht regelmäßig zur Schule gehen?

Krause:

Dafür gibt es verschiedene Ursachen, und man muss differenzieren. So schicken etwa Roma-Familien, die ohne sicheren Aufenthaltsstatus hier leben, ihre Kinder nicht zur Schule, weil sie nicht wissen, ob sie morgen abgeschoben werden. Weitere Gründe können aber auch negative Erfahrungen mit Institutionen wie Schule sein. Oder die Kinder erleben Misserfolge, weil sie sprachlich oder kulturell bedingte Verständnisschwierigkeiten haben. Um sie gezielter zu unterstützen, entstand das Projekt der Bildungsberater für Roma und Sinti. Angehörige der beiden Volksgruppen wurden im Lehrerinstitut dazu ausgebildet. Nach einer anderthalbjährigen Qualifizierung arbeiten sie fest angestellt an Schulen.

Wie können die Bildungsberater helfen?

Krause:

Sie können Familien ganz anders unterstützen, indem sie in die Familien gehen und fragen: Warum klappt es nicht, was können wir tun? Sie werden zu Vertrauenspartnern von Eltern, Kindern und Lehrern, erteilen muttersprachlichen Unterricht und fördern einzelne Schüler.

Welche Rolle spielt die Unterstützung in den Herkunftsländern?

Fager:

Im vergangenen Jahr besuchten wir ein Dorf in Rumänien, aus dem einige der in Hamburg lebenden Roma stammen. Dort bauen wir mit Partnern vor Ort ein Schulprojekt auf. Die Unterstützung von Bildungsmöglichkeiten schafft Perspektiven für die Menschen. Und das Interesse an Bildung ist vorhanden, wie ein Maßnahmenprogramm für Roma der Universität Bukarest gezeigt hat. Trotz der schlechten wirtschaftlichen Lage, die auch den Bildungssektor betrifft, ist die Zahl der Roma mit Universitätsabschluss merklich angestiegen.