Zum Kirchentag werden rund 2500 behinderte Menschen erwartet

Martina Halbeck ist zu beneiden. Sie hat sich eine besondere Einstellung erarbeitet - zu ihrem Leben, zu dem Einschränkungen gehören. Martina Halbeck hat MS. Es handelt sich um eine schleichende Verlaufsform, die bereits 1992 begann und die acht Jahre später im UKE bestätigt wurde. Seit 20 Jahren lebt sie mit ihrer Krankheit und meistert ihr Leben mit Humor und Tatkraft. Martina Halbeck arbeitet als Controllerin in Vollzeit und ist seit 25 Jahren für die Stiftung Alsterdorf tätig.

"Ich habe noch MS", sagt Martina Halbeck. Sie wählt diese Worte sehr bewusst, "denn meine Zellen hören mit, und alles ist möglich. Gott und das Universum sind für mich da. Ich bin in guten Händen." Und seit 14 Jahren auch in festen Händen. Mit ihrer Lebenspartnerin lebt die 50-Jährige in Norderstedt. In ihrem Zuhause kommt sie auch zu Fuß ohne Rollstuhl gut zurecht. Im Job ist sie im Rollstuhl am schnellsten. "Mit meinem Rolli kann ich aktiv am Berufsleben teilhaben, bin mittendrin und kann schnell von Besprechung zu Besprechung rollern oder mich mit Kollegen in der Mittagspause treffen." Manchmal arbeitet Martina Halbeck von zu Hause, denn sie kann über das Internet auf den Stiftungsserver zugreifen. "Die meisten meiner Kunden kann ich als interne Beraterin mit dem Rollstuhl erreichen, die anderen müssen zu mir kommen."

Unter Lachen berichtet die schlanke Frau, die früher im Chor gesungen hat, von zwei Ereignissen: Als sie sich im ICE in der 1. Klasse plötzlich Cecilia Bartoli gegenübersah und beim Konzert in der Berliner Waldbühne von Barbra Streisand zwei Plätze zum Preis von einem bekam - für eine Begleitung wegen des Rollis. "Da dachte ich, es lohnt sich endlich, behindert zu sein."

Sie will es nicht bequem haben. "Der neurologische Patient braucht auch die körperliche Herausforderung, sonst stellt der Kopf - mein Großcomputer - bestimmte Programme ein", sagt Martina Halbeck, die sich zur Entspannung gern mit klassischer Musik und Meditation beschäftigt. Lächelnd fügt sie hinzu: "Mein Motto ist: Ich sprenge alle Türen." Dennoch gibt es auch für Martina Halbeck Hürden und düstere Stunden. So sind Treppen ein Hindernis. Eine gute Organisation sei bei Verabredungen immer erforderlich. Sie muss durch Anrufe vorempfinden, wie es in einem Restaurant oder Hotel konkret aussieht. "Das geht natürlich zulasten der Spontaneität, und das nervt manchmal", gibt Martina Halbeck zu. In der Stiftung Alsterdorf fühlt sich Martina Halbeck wohl. "Hier bekomme ich alles, was ich brauche, habe Geschäfte, Wochenmarkt, Krankengymnastik an einem Ort." Viele der behinderten Klienten der Stiftung kennen sie lange. "Einige fragen, wann ich wieder laufen kann, oder wünschen mir Flügel. Das sind ganz besondere Momente."

Zum Kirchentag werden rund 2500 Menschen mit Behinderungen erwartet, und die Vorbereitungen laufen unter Federführung des Zentrums Barrierefrei, das seit 30 Jahren tätig ist, auf Hochtouren. "Der Kirchentag ist nach den Paralympics eine der größten barrierefreien Veranstaltungen", sagt Sprecherin Heike Rechkemmer. Damit für alle eine Teilhabe möglich ist, werden Gebärdensprachdolmetscher engagiert, Induktionsspulen für Hörgeschädigte beschafft sowie verschiedene Info-Medien für blinde, taube und geistig behinderte Menschen hergestellt. Da Sprache ebenfalls eine Barriere sein kann, gibt es sogar Vorträge und einen Eröffnungsgottesdienst in Leichter Sprache. "Der Anspruch ist: Alle sollen kommen und alle sollen verstehen können", sagt Stiftungsrat Bernd Seguin. Erstmals gibt es auf einem Kirchentag das Zentrum Inklusion mit zahlreichen Vorträgen und Konzerten an drei Tagen im CCH. "Das Thema Inklusion wird in Hamburg zu eng gefasst. Es geht nicht nur um Bildung und Inklusion und darum, ob behinderte Kinder in Regelschulen gehen sollen", sagt Pastor Christian Möring, Mitglied der Projektleitung Barrierefrei. "Es geht um die Fragen: Wie ist Gesellschaft, und wer macht Gesellschaft aus? Dabei ist jeder Teil des Ganzen. Niemand darf ausgeschlossen werden." Insofern stehen Bedingungen auf dem Prüfstand, die in Hamburg Menschen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erschweren. "Es geht auch um Gerechtigkeit, um Arm und Reich", sagt Möring.

In Hamburg sei noch einiges zu tun, beispielsweise seien zahlreiche Praxen in den Stadtteilen für Behinderte nicht erreichbar, sagt Seguin. Noch wichtiger als Rampen, Lifte und breite Schwingtüren sind die Barrieren in den Köpfen. Wann ist jemand behindert? Was kann jeder Einzelne tun? Welche Unterstützung kann er anbieten? Der Kirchentag ist ein gute Möglichkeit, das eigene Denken und Verhalten zu überprüfen.