Andrés Orozco-Estrada dirigiert das NDR Sinfonieorchester auf Kampnagel

Lateinamerikanische Klänge ziehen sich wie ein roter Faden durch die Programme, mit denen das NDR Sinfonieorchester so überaus erfolgreich Hamburgs Off-Spielstätte Kampnagel erobert hat. Der spezielle Groove dieser Musik passt zu der lockeren Atmosphäre einfach besonders gut. Unvergessen etwa das Programm zwischen argentinischem Tango und Mexikanisch-Indianischem, das vor Jahren Kristjan Järvi präsentierte.

Da passt es gleich doppelt, dass zum Ausklang der diesjährigen Kampnagel-Saison der junge Kolumbianer Andrés Orozco-Estrada anreist. Natürlich hat auch er lateinamerikanische Musik im Gepäck, nämlich die Tondichtung "Sensemayá", in der der Mexikaner Silvestre Revueltas einem karibischen Ritual nachspürt. Orozco-Estrada entstammt nicht nur demselben Kulturkreis, er ist auch der Nachfolger Järvis als Chefdirigent des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich. Und damit nicht genug der Beziehungen: Mit Beginn der Saison 2014/15 beerbt Orozco-Estrada den älteren der Järvi-Brüder, Paavo, und folgt ihm auf den Chefposten beim hr-Sinfonieorchester in Frankfurt.

Orozco-Estrada, Jahrgang 1977, gehört jener Generation von Dirigenten an, die in verblüffend jungen Jahren verblüffende Karrieren hinlegen. Ob der Lette Andris Nelsons oder der Venezolaner Gustavo Dudamel, der Norweger Eivind Gullberg Jensen oder der Grieche Teodor Currentzis, fast wirkt es, als hätten die jungen Wilden aus aller Welt die gute alte mitteleuropäische Weisheit widerlegt, dass die Lehrzeit eines Dirigenten ungefähr 30 Jahre dauere. Die "Süddeutsche Zeitung" attestiert dem Vielumworbenen - dem Kölner Gürzenich-Orchester hatte Orozco-Estrada im Januar noch einen Korb gegeben - jedenfalls eine präzise Schlagtechnik und musikalische Sensibilität zugleich.

Aber ganz so schnell wie bei den Instrumentalkollegen geht es dann doch nicht. Der österreichische Schlagzeuger Martin Grubinger etwa ist noch sechs Jahre jünger als Orozco-Estrada und schon ein Weltstar im Wortsinne. Kein Konzert, bei dem nicht jubelnde Groupies der Ohnmacht nahe wären. Und das bei Konzerten, die als "klassisch" etikettiert sind. Woran man wieder sieht, wie überholt derartige Schubladen sind, zum einen. Zum anderen ist Grubinger aber auch so ziemlich das Gegenteil eines gewöhnlichen Musikers, er pflegt das Image des Extremsportlers. Seine Konzerte absolviert er schon mal im T-Shirt, vor Auftritten wärmt er sich minutiös auf, er lässt sich auf dem Laufband filmen oder hechelt auf dem Fahrrad die Alpen hoch. Da ist es fast Ehrensache, dass er sich gelegentlich verletzt. Schon so manches Konzert musste deshalb verschoben werden, so auch die deutsche Erstaufführung von "into the open ..." von HK Gruber. Genau dieses Werk nehmen sich die beiden Temperamentsbündel auf Kampnagel gemeinsam vor. Gruber, Wiener Original, Komponist, Dirigent und Kontrabassist in Personalunion, schrieb es seinem Landsmann 2011 in die Sticks und Schlegel.

Sergej Rachmaninows "Sinfonische Tänze" fügen sich weniger bruchlos in das rhythmus- und bewegungsdominierte Programm ein, als ihr Titel vermuten ließe. Mit tänzerischer Kurzweil haben die drei Sätze nichts zu tun, eher sind sie ein sinfonischer Abgesang des großen russischen Romantikers auf schon damals versunkene Zeiten. Niemand würde vermuten, dass diese Musik erst Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden ist. Der greise Komponist schrieb sie 1940 in den USA, wo er seit der Oktoberrevolution lebte. Wie um sich des eigenen Schaffens zu versichern, zitiert er in den "Sinfonischen Tänzen" mehrfach aus seinem Jugendwerk. Sie sind nicht weniger als das Vermächtnis eines Künstlers, der in der Fachwelt ob seiner Emotionalität umstritten war - und beim Publikum genau deshalb umso beliebter.

Andrés Orozco-Estrada, Martin Grubinger, NDR Sinfonieorchester 14.6., 20.00, Kampnagel. Karten zu 20,- unter T. 0180/178 79 80* oder auf www. ndrticketshop.de. Die Veranstaltung "Konzert statt Schule" am 14. Juni ist leider ausgebucht.