Sie gelten in Europa als Grundlage der Moral im Zusammenleben. Auf ihnen fußen Gesetzgebung und ethisches Empfinden. „Du sollst nicht töten“, das leuchtet noch ein. Aber was heißt „nicht falsch Zeugnis reden“ in Zeiten von Facebook? Was sagen uns die Zehn Gebote heute? Wer sie heute interpretiert, muss versuchen, sie in die Gegenwart zu übersetzen. Das vierte Gebot, nach reformierter Zählung, interpretiert Dr. Jörg Herrmann, Leiter der Evangelischen Akademie Hamburg

Über den Sonntag gab es unlängst wieder Streit. Tourismusverbände, Kirchen, Gewerkschaften und die Kieler Landesregierung hatten sich Ende Januar auf eine neue Bäderverordnung geeinigt. Sie sieht vor, die Anzahl der Sonntage, an denen die Läden in den Tourismusorten öffnen dürfen, etwas zu reduzieren. Und schon liefen Vertreter der Tourismusbranche Sturm, sahen Arbeitsplätze verloren gehen und Badeorte veröden. Wirtschaft kontra Kirche. Sicher muss man in einigen Feldern Kompromisse finden. Der Tourismus gehört dazu. Auch Krankenschwestern und Lokführer müssen sonntags arbeiten. Aber sollten wir den Sonntag als arbeitsfreien Tag abschaffen?

Ich glaube, das wäre keine gute Idee. Denn Menschen brauchen Erholung und Besinnung, sie brauchen gemeinsame freie Tage. Für die Familie, für den Gottesdienst, zum Ausschlafen. Stellen Sie sich vor, es gäbe nur noch Werktage. Wäre das nicht schrecklich, ja unmenschlich? Der Mensch ist schließlich mehr als Arbeit und Ökonomie.

Daran erinnert das vierte Gebot. „Du sollst den Feiertag heiligen“ meint vor allem: Du sollst an diesem Tag nicht arbeiten. Er ist aus dem Trott der Arbeitswoche auszusondern. Das geschieht nicht durch besondere Praktiken oder Riten. „Heilig“ bedeutet im Hebräischen zunächst einmal einfach „besonders“ im Gegensatz zu „profan“ im Sinne von „weltlich, normal, alltäglich“.

Sonntags sollten wir das Leben wahrnehmen und wertschätzen

In der biblischen Begründung des Feiertagsgebotes im zweiten Buch Mose heißt es: „Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tag ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun. (…) Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel und Erde gemacht und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage. Darum segnete der Herr den Sabbattag und heiligte ihn.“

Ruhen sollen wir also, wie Gott ruhte. Und die Welt wahrnehmen. Im Schöpfungsbericht ist davon die Rede, dass Gott sein Werk am sechsten Tag betrachtete. Sein Urteil: „Und siehe, es war sehr gut.“ Können wir das eigentlich? Das Leben wahrnehmen und wertschätzen. Einfach so. Ohne Rechtfertigung durch Arbeit und Leistung.

Können wir das Geschenk des Daseins noch empfinden? Ohne Bonus-Zahlungen oder Publikumsapplaus. Ein Schiff durch das Watt ziehen. Mit den Kindern unterwegs sein. Uns frei machen von den Normen der Gesellschaft und des Marktes (was schwer ist, zugegeben). Nachdenken. Das Leben feiern. Gottesdienst feiern – für alle, die wollen. Das Leben nicht besinnungslos verstreichen lassen, sondern bewusst gestalten.

All das ist heute, glaube ich, umso wichtiger geworden. Denn wir leben in einer Zeit permanenter Beschleunigung – nicht zuletzt aufgrund der Computerisierung aller Lebensbereiche. Viele klagen über Dauerarbeit, Leistungsdruck und Gehetztsein. Die Burnout-Erkrankungen nehmen zu. Der Sinn des Sonntags und der Feiertage lag selten so klar auf der Hand wie heute. Denn ohne Unterbrechung und Erholung gehen Menschen kaputt. Menschen sind eben doch keine Maschinen. Ihr Wert ist auch nicht von ihrer Leistung abhängig. Der Sinn des Lebens ist kein Effizienzrekord. Darin sind sich die Religionen übrigens einig, auch wenn die Christen den Ruhetag vom Sonnabend auf den Sonntag – als dem Tag der Auferstehung – verschoben haben. 321 erklärte Kaiser Konstantin den Sonntag zum Ruhe- und Feiertag. In unserem Grundgesetz sind die Sonn- und Feiertage als „Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung“ geschützt. Ein Kollege sprach einmal von 52 Inseln für die Seele. Gut, dass es sie gibt. Man sollte sie verteidigen.

Vortragsreihe „Die 10 Gebote“ an St. Katharinen, Katharinenkirchhof 1, der Eintritt ist frei. Infos: www.katharinen-hamburg.de

Am 25. März um 19.30 Uhr diskutieren Sabine Schulze, Kunsthistorikerin und Direktorin des Museums für Kunst und Gewerbe, und Hauptpastor Alexander Röder über das zweite Gebot „Du sollst Dir kein Bildnis machen!“.

Am 8. April um 19.30 Uhr sprechen Prof. Dr. Wolfram Weiße und Prof. Dr. Katajun Amirpur von der Akademie der Weltreligionen über das dritte Gebot „Du sollst den Namen des Herrn nicht missbrauchen!“. Ein interreligiöser Dialog über die unterschiedliche Empfindlichkeit oder Achtsamkeit im Umgang mit dem Heiligen.

Am 22. Mai um 19.30 Uhr spricht die Politikerin Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen) über das vierte Gebot.