mit Propst Johann Hinrich Claussen über die “Ambiguitätstoleranz“ bei Kleinkindern

Wie jeder Mensch, der in einer größeren Institution arbeitet, bin ich als Propst versucht, mein Dasein dadurch zu rechtfertigen, dass ich amtliche Geschraubtheiten von mir gebe. Zum Glück beziehungsweise Unglück bemerke ich das meist nicht. Deshalb bin ich einer ansonsten von mir geschätzten Behörde dankbar, dass sie mich an diese Berufsgefährdung erinnert hat.

Es ging um Folgendes: Um Eltern bei der Entscheidung zu helfen, wann sie ihre Kinder einschulen sollten, wurde ein Zettel versandt. Darin sollten Erzieherinnen im Kindergarten ausfüllen, wie es um die Kompetenzen der von ihnen betreuten Viereinhalbjährigen bestellt ist. Heute sollen Kinder ja nicht mehr lernen, sondern Kompetenz erwerben. So ging das Papier die Kompetenzen von Kopf und Körper durch, bis es zu den sozialen Fähigkeiten kam. Und dort stieß ich auf den Begriff "Ambiguitätstoleranz". Zwischen eins bis fünf sollte man angeben, wie es sich mit der - eigentlich müsste es heißen - Ambiguitätstoleranzkompetenz der Viereinhalbjährigen verhalte. Äh, wie bitte? Ich versuchte es mir so zu erklären: Können die Kleinen mit unklaren Situationen umgehen oder rasten sie sofort aus, wenn ihnen etwas gegen den Strich geht - zum Beispiel wenn sie sich an der Supermarktkasse keines der kindergriffnahen Überraschungseier nehmen dürfen oder wenn es zum Abendbrot keine Nutella gibt? Ich hielt inne und fragte mich, was ich damals angekreuzt hätte, als unsere Kinder in diesem Alter waren. Nun, darüber möchte ich an dieser Stelle den Mantel seelsorgerlicher Verschwiegenheit breiten. Im Rückblick denke ich, dass ich mich bei der Kita-Leitung massiv dafür hätte einsetzen müssen, mehr Ressourcen in die Ambiguitätstoleranzkompetenzförderung unseres Nachwuchses zu investieren. Doch wie übersetzt man diesen pädotechnologischen Schwulst so, dass er Sinn ergibt? Ich würde das Wort "Gelassenheit" vorschlagen. Sie tut allen gut - Kindern, Eltern und Erzieherinnen. Damit sie wachsen kann, braucht es vieles - zum Beispiel Gottvertrauen und Nächstenliebe. Evangelische Kitas sind, so hoffe ich, nicht der schlechteste Lebens- und Bildungsort, diese Tugend (nicht "Kompetenz"!) kennenzulernen.