mit Propst Johann Hinrich Claussen über polnische Dichtung statt populärer Schwedenkrimis

Bevor das eben noch neue Jahr schon wieder alt aussieht, will ich flink mein schönstes Erlebnis aus dem vergangenen Jahr erzählen, ehe auch dieses im Sumpf des Vergessens versinkt. Und das war so.

Ich musste ins ferne Tübingen reisen, was eine sehr lange Bahnfahrt nötig machte. Die öde Zeit wollte ich nutzen und mich auf einen hohen Besuch vorbereiten. Gemeinsam mit unserem Nachbarn, dem polnischen Generalkonsul, hatte ich den wunderbaren, hierzulande leider kaum bekannten Dichter Adam Zagajewski in die Hauptkirche St. Nikolai am Klosterstern eingeladen. Bei uns sollte er aus seinem neuen und - wie zu erwarten: natürlich - wunderbaren Lyrikband lesen. Ob da wohl jemand kommen wird, fragte ich mich bang. Die Leute lesen ja heute keine Gedichte mehr. Sie meinen wohl, sie kämen auch mit Schwedenkrimis durchs Leben. Zumindest wollte ich für die Lesung und das Gespräch gut vorbereitet sein.

So saß ich im IC und las in Ruhe und Langsamkeit seine Gedichte. In Mannheim dann stolperte ein alter Mann ins Abteil, setzte sich seufzend neben mich und richtete die verrutschte Kippa auf seinem Kopf. Und dann tat er das, was ich auch immer mache: Er linste zu mir rüber, um herauszufinden, was ich wohl lese. Er linste und schielte, schließlich fragte er, was ich da läse. Gedichte, sagte ich. Zu meiner Überraschung kannte der alte Jude Adam Zagajewski - ihn und all die anderen polnischen Dichter. Ein selten schönes Gespräch begann.

Irgendwann erzählte ich ihm von der Lesung und wie schade ich das doch fände: Wenn ich Polen den Namen "Zagajewski" nennen würde, ginge sofort ein helles Lächeln über ihr Gesicht. In Deutschland aber würden ihn nicht viele kennen. Was sagte mein Zugnachbar daraufhin? Er zog die Schultern hoch, breitete die Arme aus, machte ein leicht verdrießliches Gesicht und sagte nur: "Was sind schon viele?" Das soll in diesem Jahr mein Mantra gegen den eigenen kirchlichen Quotendruck sein: Was sind schon viele? Es kommt darauf an, dass die Richtigen kommen. Zur Lesung von Adam Zagajewski sind dann doch einige erschienen. Und wer sie verpasst hat, sollte sich seinen neuesten Band mit dem Titel "Unsichtbare Hand" besorgen.