Heiligabend in der rappelvollen Kirche, die feierliche Stimmung lässt ein wenig zu wünschen übrig. Für manchen Besucher scheint der Gottesdienst nur eine Pflichtveranstaltung zu sein - weil eben Weihnachten ist. Doch dann sorgt ein kleines Mädchen dafür, dass der Abend eine bezaubernde Wendung nimmt

Die Kirche war überfüllt, an der Tür versuchte der Küster, sich den Menschen entgegenzustemmen, die auf den letzten Drücker gekommen waren und keinen Raum mehr in der Weihnachtsherberge fanden. Die Kerzen am Baum und am Adventskranz brannten, die Kinderchorkinder saßen artig auf den Altarstufen, und die Orgel begann zu spielen. Sie klang etwas vorwurfsvoll, weil der Organist Weihnachten nicht mochte. Genauer gesagt die Leute, die sich am Heiligen Abend in der Kirche einfanden. Deshalb spielte der Kantor auch mit voller Wucht das Vorspiel zum Choral "Lobt Gott ihr Christen alle gleich" und seufzte leise darüber, dass der folgende Gesang wohl eher irdisch als himmlisch einsetzen würde.

Die Prophezeiung erfüllte sich prompt: Frohlockend oder gar fröhlich hörte sich das Gebrummel nicht an, was da zu ihm auf die Empore aufstieg. Manche Weihnachtschristen hatten ihre "Ich kann nicht singen"-Gesichter aufgesetzt und starrten mit zusammengekniffenen Lippen auf die Liederblätter. Überhaupt fühlte die Kirche sich an, als sei sie eher von Mitgliedern eines Betriebsausfluges des Vereins zur Pflege der schlechten Laune besetzt worden als mit von Weihnachtsfreude erfüllten Zeitgenossen.

Und dann passierte es: Ein kleines goldlockiges Mädchen von drei, vier Jahren lief zielsicher nach vorn und ging auf die Krippe zu. Dort sah es die Puppe auf Heu und auf Stroh - und Maria und Josef aus der Mannschaft des Krippenspiels betrachteten es nicht besonders ernst. Das Mädchen griff sich die Puppe, presste das Jesuskind an seine Brust und machte sich mit einem verstohlenen Grinsen auf den Rückweg. Die Gesichter der Darsteller der redlichen Hirten wurden frostiger, nur der erbarmungslose Wirt feixte dreist. Da schoss aus der zweiten Bank die Gemeindehelferin Fräulein Grimm* (Name geändert) heraus, nahm dem Mädchen energisch die Puppe aus den Händen und schob es in Richtung Ausgang. Danach legte sie das Jesuskind mit Nachdruck zurück in die Krippe und kehrte kopfschüttelnd auf ihren Platz zurück. Man sah ihr an: Genau so etwas in der Art hatte sie ohnehin schon befürchtet. Von diesen Leuten. Na ja. Weihnachten eben. Wie immer.

Tapp tapp tapp - das Mädchen mit den goldenen Haaren war nach sehr kurzer Pause wieder auf dem Weg zum Altarraum. Es ging nun wie auf vertrauten Wegen direkt auf die Krippe zu und entnahm das Christkind mit einem gekonnten Griff und nahm es in die Arme, streichelte ihm den Kopf und blieb strahlend in der Mitte vor dem Altar stehen. Die Gemeinde wurde peu à peu wach und wacher: Was würde wohl jetzt als Nächstes passieren? Richtig: Die Gemeindehelferin Frau Grimm zischte wie eine Flugabwehrrakete aus der Bank in Richtung Krippe, schnappte sich die Puppe, legte sie mit noch größerem Nachdruck zurück und ergriff den Arm der Missetäterin und zog sie empört in den Kirchenraum. "Können Sie nicht aufpassen?", raunte sie in Richtung der Mutter. Die zuckte etwas zusammen und hob bedauernd bis hilflos die Schulter. Genau: Es dauerte keine Minute, bis die Goldhaarige sich erneut auf den Weg nach Bethlehem machte, unterstützt vom Gesang des Liedes "Ihr Kinderlein kommet". Das klang jetzt doch irgendwie belebter - und manche Weihnachtschristen warfen ihre Beschlüsse bezüglich der Gesangsmitwirkung in der Kirche einfach hinter sich. Intuitiv oder versehentlich.

Die Augen der Krippenspielerschar weiteten sich indessen beträchtlich, als sie das Kind erneut zur Krippe schreiten sahen. Als es dann zum dritten Mal das Christkind in die Arme nahm, fingen die Leute plötzlich an zu klatschen. Und das hatte es in dieser Kirche seit Menschengedenken noch nie gegeben. Die Gesichter hellten sich auf, viele lächelten sogar - und eine wunderbare Leichtigkeit zog in die Kirche ein, die schwere Herzen enteiste und dunkle Blicke heller machte. "Ein Kind verändert die Welt!" Die Weihnachtsbotschaft hatte sich die Bahn frei gemacht durch die wundersame Mithilfe dieses kleinen Mädchens. Was ich an diesem Abend gepredigt habe? Ich weiß es nicht. Brauche ich ja auch nicht, denn dieser Part war ja schon geschafft - und viel besser, als ich das jemals hinbekommen hätte. Wer das Mädchen war? Die Deutungen schwanken zwischen Christkind und Engel. Beim Lied: "Ich steh an deiner Krippen hier" wurde jedenfalls ein geradezu erlöstes Lächeln in der Kirche heimisch. Und das Lied am Ende der Christvesper "O du fröhliche" erklang diesmal fröhlich. Das Wunder der Heiligen Nacht.

Der Autor Matthias Neumann war bis zu seiner Pensionierung 2012 Pastor an der Christuskirche in Othmarschen. Der gebürtige Eisenacher studierte in Leipzig nicht nur Theologie, sondern auch Bassgitarre und spielte als Bassist bei Nina Hagen. Im Wachholtz Verlag erschien in diesem Jahr sein Buch "Umzug mit Fischen".