Der Pianist und Komponist Gottfried Böttger machte sein Talent mit großem Erfolg zum Beruf. Doch neben den Höhen prägten auch viele Tiefen sein Leben. Dass er nicht den Mut verlor, lag letztlich an seinem Gottvertrauen

Zu Gott gebetet habe er noch nie, sagt Gottfried Böttger. Auch in jener Nacht nicht, als er sich das Leben nehmen wollte. Weil er ihn nicht mehr aushalten konnte, diesen unbändigen Schmerz. Damals, 2006, als der Musiker von einer Tour mit Axel Zwingenberger in seine Villa in Harvestehude zurückkehrte, und das Haus leer stand. Seine Frau hatte ihn verlassen. Er hatte nichts geahnt, sagt er. "Und plötzlich war alles weg, auch mein Sohn."

Böttger sah keinen Weg mehr. Nahm zwei Zyankalikapseln mit und ging am späten Abend runter an die Alster. Die ganze Nacht verbrachte er dort. Als die Dämmerung reinbrach, kehrte er zurück. In das verlassene Haus. In ein Leben, das in Scherben lag.

"Das alles ist heute Vergangenheit", sagt Gottfried Böttger. Er sagt das mit Nachdruck, den Blick nach vorn gerichtet. Er strahlt Zuversicht aus. So, als hätte er eine schwere Prüfung abgelegt. Er hat erfahren, dass sich neue Türen öffnen, wenn alte geschlossen werden. Dass neue Pfade entstehen, wenn man bereit ist, vertraute Wege zu verlassen. "Genau dort, an den Scheidewegen, muss Gott seine Hand im Spiel haben", sagt Böttger. Denn an Zufälle glaubt der Pianist nicht.

Also ist es aus seiner Sicht auch kein Zufall, dass er ein Jahr nach der Trennung seine erste große Liebe, Ellen von Spanyi, bei einem Spaziergang trifft. 1963 hatte der damals 13-Jährige seinen ersten Liebesbrief an Ellen geschrieben. Es gab einen Kuss. Doch die Wege trennten sich. Beide heirateten einen anderen Partner. 44 Jahre vergingen bis zum Wiedersehen. Seitdem sind sie ein Paar. Ihre Wege haben sich im richtigen Moment gekreuzt.

Von Gott gewollt sei auch diese Begegnung: als der Kantor der Kirchengemeinde St. Gabriel in Steilshoop ihn bittet, zugunsten des neuen Flügels in der Kirche ein Jazzkonzert zu geben. Im Gespräch stellt sich heraus, dass der Kantor genau wie Böttger in der Jugend bei Prof. Robert Henry Klavierunterricht genossen hatte. "Er war ein strenger, anspruchsvoller Mensch", erinnert sich Böttger. "Wir haben nicht ein einziges Mal miteinander gelacht." Henry kommt zum Konzert. Er hört seinen Ex-Schüler spielen. Sie nehmen sich in die Arme. Sie lachen.

Es gab viele fröhliche Momente in Gottfried Böttgers Leben. Eine unbeschwerte Kindheit in einem musikalischen Elternhaus, in dem an vielen Abenden gemeinsam musiziert wird. Vater Herbert Böttger, Allgemeinmediziner und Erster Violinist beim Hamburger Ärzte-Orchester, hat häufig Musiker zu Gast. Gottfried hört ihnen begeistert zu. Bereits als Fünfjähriger komponiert er seine erste Variation von "Hänschen klein". Er hat Talent, das hören die Eltern. Zwei Jahre später gibt der kleine Junge sein erstes Konzert. Im Programm steht er an erster Stelle. An dritter Stelle folgt Justus Frantz. Zu Hause darf Gottfried nur klassische Musik hören. Heimlich aber besorgt er sich Schallplatten von den Beatles, beschäftigt sich mit Blues, Jazz und Ragtime. Die Kirche eröffnet ihm schließlich die Chance, diese Musik am Klavier eigenhändig auszuprobieren. "Ich hatte damals Konfirmandenunterricht in St. Johannis Harvestehude", erinnert er sich. "Im Keller des Gemeindehauses stand ein Klavier. Ich habe das Fenster offen gelassen und bin nachts zum Üben dort hineingeschlichen." Aus dem Posaunenchor der Gemeinde engagiert er den besten Bläser. Kurze Zeit später gründen die beiden ihre erste Jazzband, die Churchyard Jazzband. Überhaupt sei das die Zeit gewesen, in der er zum ersten Mal eine richtige Nähe zur Kirche gefühlt habe, sagt Böttger. Der damalige Pastor Olaf Lingner sei ein offener, gerader Typ gewesen. "Es ging ihm nicht ums Auswendiglernen, sondern darum, zu begreifen, was in der Bibel stand." Diese hatte Böttger schon als kleinen Jungen fasziniert. Neben den vielen Büchern über das Universum, die Sterne, das Sonnensystem griff der naturwissenschaftlich begabte Junge immer wieder zur Bibel. "Ich habe mich gefragt: Was war vor dem Urknall?", sagt Böttger. "Die Institution Gott machte für mich eine Übersinnlichkeit begreifbar, die nicht zu begreifen war."

Böttger glaubt fest, dass Gott bestimmt, wohin der Weg eines Menschen geht. Was der Mensch allerdings aus diesem Wege mache, liege an ihm selbst. "Ich habe von Gott das Talent zum Musizieren bekommen. Für mich war klar, dass ich es nutzen werde."

1969 bildet sich um ihn die Jazz-Pop-Gruppe Leinemann mit Uli Salm, Jerry Bahrs, Django Seelenmeyer und Ulf Krüger, zwei Jahre später erscheint seine erste Solo-Schallplatte. Gemeinsam mit Udo Lindenberg gründet er das Panik-Orchester. In der Bremer Talkshow "3 nach 9" ist er seit dem Sendestart am 19. November 1974 ständiger Pianist. Er macht Kabarett, komponiert Filmmusik, Blues-, Boogie- und Ragtimestücke für Kinder, lehrt als Dozent für Mediendidaktik im Fachbereich Informatik und wird 1999 zum Professor ernannt.

"Musik ist für mich ein Geschenk von oben", sagt Böttger. Eins, das er weitergeben möchte. Und mit dem er Gutes tun will. Auch für andere. Immer wieder tritt er bei Charity-Veranstaltungen und Benefizkonzerten auf, oft ist die Kirche sein Konzertsaal. Im März 2006 wird Gottfried Böttger vom Fachverband der deutschen Klavierindustrie auf der Musikmesse in Frankfurt als "Klavierspieler des Jahres 2006" ausgezeichnet. Kurze Zeit später zerbricht seine Ehe. Gottfried Böttger wankt. Aber er zerbricht nicht. Er fühlt, dass er allein ist, aber nicht verlassen. "Gott ist da, diese Kraft, die einem sagt: 'Los mein Junge, jetzt mach mal.'"

Und der Hamburger Jung macht. Rappelt sich auf. Sucht sich eine neue Wohnung, baut mit dem damals 13-jährigen klassischen Pianisten Robin Giesbrecht ein gemeinsames Konzertkonzept auf. Genießt die Zeit mit seiner neuen, alten Freundin Ellen. Bis die Ärzte 2009 Blasenkrebs feststellen. Der Tumor ist extrem bösartig. Die Mediziner müssen operieren, und zwar sofort. "Ich hatte panische Angst um meine Feinmotorik und dass die Operation das Ende meiner Musikerkarriere bedeuten könnte", sagt Böttger. Nach zwei Tagen auf der Intensivstation bittet er den Physiotherapeuten, ihn an ein Klavier zu setzen. Mit Schläuchen und Infusion wird er schließlich ins Foyer der Asklepios Klinik Barmbek gebracht. Dort steht ein Flügel. Gottfried Böttger legt seine Finger auf die Tasten. Er hält inne. "Was hast du mit mir gemacht?", fragt er, den Blick in den Himmel gerichtet. "Gott, du hast mich am Leben gelassen. Aber hast du mir auch das gelassen, was mich am Leben hält?" Dann beginnt er zu spielen. Er wählt den C-Jam-Blues von Hughes Allington. Es ist das schwerste Stück, das er kennt. Die Finger fliegen über die Tasten. Die Patienten bleiben stehen. Sie applaudieren. Und Böttger fängt an zu weinen.