In einer besonderen Geschichtsstunde erzählt die Holocaust-Überlebende 160 Schülern am Harburger Heisenberg-Gymnasium von ihrer Jugend

Harburg. Manchmal sagt eine Zahl mehr als ein ganzes Geschichtsbuch. Auf Wunsch eines Mädchens krempelt Dagmar Lieblová den Pullover hoch und zeigt die auf ihren Unterarm eintätowierten Ziffern. Im Vernichtungslager Auschwitz hatten Nationalsozialisten die Tschechin im Jahr 1942 zur Nummer degradiert, der Vernichtung preisgegeben. Damals war die heute 83 Jahre alte Dame in etwa so alt wie die Schülerin, der sie jetzt gegenübersteht. Deutsche haben ihr die Jugend gestohlen, Vater, Mutter und ihre jüngere Schwester getötet.

Heute kehrt die Holocaust-Überlebende Dagmar Lieblová aus Prag immer wieder nach Deutschland zurück, ist ein gern gesehener Gast. Zwei bis drei Vorträge im Monat hält sie gegen das Vergessen. Jetzt erzählte sie 160 Schülern im voll besetzten Pausenraum am Heisenberg-Gymnasium in Harburg aus ihrer Jugend im Nationalsozialismus. Die überkonfessionelle Initiative Gedenken in Harburg um den früheren stellvertretenden Schulleiter des Gymnasiums, Klaus Möller, hat die Begegnung möglich gemacht.

Als Dagmar Lieblová 15 Jahre alt war, musste sie im Jahr 1944 in Harburg Zwangsarbeit leisten. Gerade war sie der Ermordung in Auschwitz entkommen. Ein Schreibfehler in ihrem Geburtsdatum hatte sie vor der Gaskammer bewahrt. Harburg habe in Trümmern gelegen, erinnert sie sich an die Zeit im Außenlager des Konzentrationslagers Neuengamme am Falkenbergsweg in Neugraben. "Wir mussten zum Beispiel einen Panzergraben in Hausbruch ausheben", erzählt sie.

Damals freute sie sich über die Luftangriffe der Alliierten. Weil sie Hoffnung auf Befreiung bedeuteten. "Andererseits hatten wir in den Kellern auch Angst." Britische Soldaten befreiten sie am 15. April 1945 aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen, wohin sie in der Zwischenzeit verlegt worden war. In dem Konzentrationslager hätten Tote herumgelegen, niemand habe sie weggeräumt. Viele Mitinsassen seien nach der Befreiung an Krankheiten oder Erschöpfung gestorben.

Dagmar Lieblová überlebte - und studierte Germanistik. Ausgerechnet Deutsch, wundern sich die Harburger Gymnasiasten. Zur Wahl ihres Studienfachs werde sie oft gefragt, sagt die Professorin und hat eine überraschend pragmatische Erklärung dafür: "Die deutsche Sprache ist ja nicht schuld." Ursprünglich habe sie Englisch studieren wollen. Aber als 19-Jährige nach dem Krieg hätte sie nicht noch einmal in eine fünfte oder sechste Schulklasse gehen wollen, um die Sprache zu lernen. Deutsch dagegen war in ihrer Kindheit in der tschechischen Republik erste Fremdsprache an der Schule.

Dagmar Lieblová wurde verhaftet und beinahe ermordet, weil sie Jüdin war. Dabei habe sie, wie sie sagt, nie ein jüdisches Leben geführt. "Wir haben Weihnachten und Ostern gefeiert, nicht die jüdischen Feiertage." Im Jahr 1939 habe sich niemand vorstellen können, was die Nationalsozialisten mit den jüdischen Menschen tun würden. Ausführlich erklärt die Zeitzeugin den Harburger Schülern, was die Judenverfolgung für sie als zehn Jahre altes Mädchen bedeutet hat. Sie durfte nicht ins Kino, nicht ins Theater, nicht auf den Spielplatz. Ihrem Vater, einem Arzt, wurde untersagt, Patienten zu behandeln. Ihre Eltern mussten den Familienschmuck abgeben, nur die Eheringe hätten sie behalten dürfen.

Im Juni 1942 wurden sie und ihre Familie in das Lager Theresienstadt deportiert. 50 Kilo Gepäck durfte jede Person mitnehmen. Die Schüler wollen wissen, warum die jüdischen Menschen nicht versucht haben zu entkommen. Die Holocaust-Überlebende erklärt: Nur wenige hätten damals versucht, sich zu verstecken. Dazu bräuchte man "verlässliche Personen", erklärt Dagmar Lieblová. Und wenn man sich vor den Peinigern versteckt hätte, hätte man keine Lebensmittelcoupons mehr erhalten. "Wovon sollte man dann leben?", fragt sie.