Altmeister Michael Gielen dirigiert Mahlers Dritte

"Dass ich sie Symphonie nenne, ist eigentlich unzutreffend, denn in nichts hält sie sich an die herkömmliche Form. Aber Symphonie heißt mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen." Das ist mal eine klare Ansage, da kann man nicht über Halbgares meckern. Zurückhaltung war jedenfalls nicht gerade eine Stärke von Gustav Mahler; das war schon während seiner Galeeren-Jahre als Kapellmeister am Hamburger Stadt-Theater so und hatte sich in der Zeit danach nur verfestigt.

Nirgendwo sonst hat Mahler sich selbst so konsequent über den Rand des Exzesses getrieben wie in seiner Dritten; sie ist größer, radikal stimmungsschwankender, ausufernder und länger als jeder andere Sinfonie im spätromantischen Standardrepertoire. Sechs Sätze statt der handelsüblichen vier (die Ideen für einen siebten Satz verarbeitete er im Finale der Vierten), etwa anderthalb Stunden Rundflug durch ein verstörend großartiges Ideen-Universum. In diesem Zeit-Raum hätten gleich mehrere Mozart- oder Beethoven-Sinfonien Platz. Erst in seiner Achten wird Mahler wieder so monumental ausholen.

Wie aus einem Füllhorn geschüttet, brachte Mahler in diesem 1902 uraufgeführten Koloss alles unter, was er bis dahin an Stilmitteln und Markenzeichen entwickelt hatte: großes Pathos, Militaria-Anspielungen, Ätherisches aus der freien Natur und spirituelle Einkehr, Kinderchor-Passagen, grotesk verzerrte Scherzo-Momente, Menuett-Mutationen und aggressiv dröhnende Pracht. Haufenweise Motive. Ein Kaleidoskop der harten Kontraste.

Dass dieses Stück so überläuft vor Ideen und Variationen, macht es für einen auf Details versessenen Dirigenten wie Michael Gielen gerade erst interessant. An den Herausforderungen wachsen heißt hier: in die Tiefe gehen, in die Details, lesen und sortieren im Kleinen, ohne das riesige Ganze dabei aus den Augen zu verlieren.

Mit jeder neuen Episode aus dem Symphonien-Zyklus, den Gielen und das NDR Sinfonieorchester seit einigen Spielzeiten und mit enormem Erfolg gemeinsam erarbeiten, wird klarer, wohin die Reise hier geht: an die Substanz.

Dreh- und Angelpunkt dabei ist wohl vor allem das große Altsolo im vierten Satz, Zarathustras Nachtwandlerlied "O Mensch! Gib acht!" aus Nietzsches "Also sprach Zarathustra". Ergänzung und Erweiterung dazu ist das "Wunderhorn"-Lied "Es sungen drei Engel" im nachfolgenden Satz, bei dem der Knabenchor mit heiliger "Bim-Bam"-Einfalt zum Einsatz kommt.

Das finale Adagio mit seinen epischen Ausmaßen erinnert oft stark an die Tonsprache Bruckners. Mahlers visionäre Kraft als Einzelkämpfer für die Erkenntnis stößt hier ebenso brutal wie grandios an ihre Grenzen. Das letzte weise Wort zu so viel Schwergewichtigem darf Adorno haben: "Mahlers Symphonien und Märsche sind keine des disziplinierenden Wesens, das triumphal alles Einzelne und alle Einzelnen sich unterjocht, sondern sammeln sie ein in einen Zug des Befreiten."

Abo-Konzer . 17.1., 11.00 / 20.1., 20.00, Laeiszhalle. Karten zu 10,- bis 46,- unter T. 0180/178 79 80 (bundesweit zum Ortstarif, max. 42 Cent pro Minute aus Mobilfunknetzen) oder www.ndrticketshop.de