Die Rebellion des Bürgertums beginnt im Bistro Culinarium am Mittelweg: Eine ältere Dame im Pelzmantel blockiert den reservierten Platz. Lady Bitch Ray zögert einen Moment, zieht die Augenbrauen hoch und nimmt dann doch nur am Tisch gegenüber Platz. "Die vertreiben wir schon noch", sagt sie selbstbewusst und bestellt Tee und Gebäck. Es bleibt bei der Ankündigung und der Verwunderung, dass es heute ausnahmsweise mal nicht sie ist, die die Regeln bricht. Und sei es nur die Regel eines reservierten Tisches. Provokation um jeden Preis? Oder ein Missverständnis? Letzteres - wieder einmal. Das Missverständnis ist zu einer Konstante in der Karriere der Rapperin geworden. Einer Karriere, die an dem Spannungsfeld zwischen akademischen Ambitionen und skandalumwitterten Medienauftritten zu zerbrechen drohte. Kann eine Wissenschaftlerin zugleich Porno-Rapperin sein?

Rückblick: Bremen, zugleich ihr Geburtsort, Ende der 1990er-Jahre. Lady Ray, wie sie sich damals noch nennt, tritt in einem ihrer extravaganten Kostüme in einem Freizeitheim auf und rappt, wie immer, über Sex. Doch etwas ist diesmal anders. Das Publikum ihrer Heimatstadt fängt an, Lady Ray als "bitch", als Schlampe, zu beschimpfen. Die Rapperin beschließt, den Namen für sich anzunehmen. Aus Lady Ray wird Lady Bitch Ray.

Seitdem lebt Reyhan Sahin mit zwei Identitäten. Da ist die reflektierte Doktorandin Sahin, die in Bremen Germanistik und Linguistik studierte. Die mit ihrer 2006 publizierten Magisterarbeit zum Thema "Jugendsprache anhand der Darstellung der Jugendkultur Hip-Hop" für Aufsehen sorgte. Die Stipendiatin mit türkischen Wurzeln, die bereits im Februar ihre Dissertation zum Thema "Die Bedeutung des muslimischen Kopftuches" eingereicht und verteidigt hat. Und da ist Lady Bitch Ray, die Künstlerin, die immer wieder mit bizarren Aktionen provoziert.

Irgendwann kam der Punkt, als die Lawine, die Lady Bitch Ray auslöste, Reyhan Sahin fast erschlagen hätte. Sahin wurde als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Bremen mit anonymen Beschwerden konfrontiert, Journalisten lauerten ihr vor dem Hörsaal auf. Der Druck wurde zu groß. Im Sommer 2008 brach sie in der Universitätsbibliothek zusammen. Diagnose: Burn-out. Die Doktorandin verschrieb sich daraufhin eine dreijährige Medienabstinenz. An ihrer Botschaft hält sie trotz allem fest. Ihre Botschaft: Frauen sollen sich nehmen, was sie brauchen, sollen selbstbestimmt leben. Auch sexuell. Denn Frauenbilder, sagt sie, werden gemacht. Von Männern.

Lady Bitch Ray ist so etwas wie das Sprachrohr von Reyhan Sahin. Nur ist das oft so laut, so überpegelt, dass die Botschaft verzerrt wird. Man muss laut sein, um gehört zu werden. Und je mehr Reyhan Sahin zu sagen hatte, desto mehr drehte Lady Bitch Ray den Verstärker auf. Heute tut Sahin hingegen viel, um richtig verstanden zu werden, was eigentlich heißt, dass Lady Bitch Ray ziemlich viele Dinge bleiben lässt, die sie früher noch getan hätte.

Es wird überdies deutlich, dass die Rapperin Lady Bitch Ray nicht ohne die Wissenschaftlerin Reyhan Sahin funktionieren würde, denn die Kunstfigur Lady Bitch Ray ist eine Gesamtperformance, die sich ihre Philosophie aus allen Strömungen der feministischen Bewegung zusammengebastelt hat. Während Sahin wissenschaftliche Grundlagenforschung betreibt, wird Lady Bitch Ray demnächst schon die Möglichkeit bekommen, ihre Ansichten mit ihrem Buch "Bitchsm" zu vertreten - und somit gewissermaßen ihre Ray-Habilitation zu forcieren.

Im Culinarium am Mittelweg hat sie bereits ihr Ziel erreicht. Die Dame hat sich lautlos verabschiedet. Vertrieben werden musste sie nicht.