Früher tanzten die Menschen ums goldene Kalb. Heute ist die Kuh lila gefärbt. Geblieben ist die Sehnsucht des Menschen nach Reichtum, Macht und Konsum. Sind das die fremden Götter, gegen die sich das erste der Zehn Gebote richtet? "Du sollst keine anderen Götter neben mir haben" - und doch erscheinen Banken als Kathedralen des Reichtums, ist die Macht sozialer Netzwerke ungebrochen und entstehen in den Städten täglich neue Tempel des Konsums.

Schnell lassen sich die neuen Götter der Gegenwart benennen, die an die Stelle des einen alten Gottes der jüdisch-christlichen Religionstradition treten. Mir geht diese Aktualisierung zu schnell. Zu schnell, weil mich etwas grundsätzlich daran stört. Als ob sich das erste Gebot und mit ihm die anderen neun darin erschöpften, moralische Handlungsanweisungen zu sein.

Diese Moralisierung von Religion erweckt den Eindruck, es gäbe nichts anderes als göttliche Auflagen, mit denen das Leben eingeengt und unattraktiv, weil nicht mehr zeitgemäß wird; als müsse Gott seinen moralischen Zeigefinger erheben und den Menschen mit den Zehn Geboten ermahnen im Stile eines "Du sollst (nicht)!". Der Begriff der "Zehn Gebote" passt ja auch nur bedingt, denn abgesehen von Sabbat- und Elterngebot handelt es sich um Verbote.

Etwas ganz Wesentliches aber geht verloren, wenn man die Zehn Gebote nur als "Magna Charta eines allgemeinen Menschheitsethos" liest. Der hebräische Urtext, sei es im Buch Exodus (Ex 20,2-17), sei es im Buch Deuteronomium (Dtn 5, 6-22), offenbart nämlich noch etwas ganz anderes: Die Zehn Worte im eigentlichen Sinn beginnen gar nicht mit dem Fremdgötterverbot als erstem Gebot, sondern mit dem vorangehenden Vers: "Ich, Jhwh, bin dein Gott, der dich aus dem Land Ägypten herausgeführt hat, aus dem Sklavenhaus" (Ex 20, 2). Dann erst folgt "Du sollst neben mir keine anderen Götter haben" (Ex, 20, 3).

Dieser erste Vers stellt alle weiteren Ge- und Verbote in ein völlig anderes Licht. Für deren richtiges Verständnis ist es nämlich von entscheidender Bedeutung, dass am Anfang nicht das ethische Gebot steht, sondern die Zusage Gottes zu seinem Volk und die Erinnerung an die Befreiung Israels aus der Gefangenschaft Ägyptens. Ohne diese Befreiungstat Gottes und den durch sie eröffneten Freiheitsraum ergeben die Gebote gar nicht ihren Sinn. Umgekehrt ist es ihre Funktion, diesen Freiheitsraum zu erhalten. Das ist auch der Grund, warum die Zuwendung zu anderen Göttern den Verlust der eigenen Freiheit bedeutet.

Die Zehn Gebote zielen also nicht darauf ab, die Lebensmöglichkeiten des Menschen einzuengen, sondern seine Spielräume zu eröffnen und zu sichern. Der Rabbiner Andrew Steiman hat hinsichtlich der Zehn Gebote einmal von "Vollkommenheit im Gleichgewicht" gesprochen: Wer nach ihnen lebt, beraubt sich nicht in erster Linie seiner Möglichkeiten, sondern bindet sich als freier Mensch angesichts der von Gott geschenkten Freiheit. Das auf dem Foto dargestellte Schaukeln verkörpert die weltliche Erfahrung einer solchen "Vollkommenheit im Gleichgewicht": Wie das Schaukeln ohne den im Bild nicht sichtbaren Halt, an dem die Schaukel hängt, nicht möglich ist, so ist auch ein Leben in Freiheit ohne die Orientierung an dem, wovon die Zehn Gebote sprechen, nicht zu verwirklichen.

Das aber ist eine ganz andere Story als die eines Gottes, der den Zeigefinger erhebt.