Franka ist Spastikerin - für ihre Freunde macht das keinen Unterschied. Was Stadtteilschulen derzeit Sorgen bereitet, wird an der Bugenhagenschule in Alsterdorf seit Jahren erfolgreich praktiziert: die Inklusion aller Schüler

ie hat infantile Zerebralparese. Franka kann ihre Füße nicht kontrollieren, so angespannt sind ihre Muskeln. Deshalb braucht sie einen Rollstuhl, an beiden Füßen trägt sie sogenannte Orthesen, die ihre Fußstellung korrigieren.

Vor der Geburt hat Frankas Gehirn zu wenig Sauerstoff erhalten. Sie weiß, dass sie anders ist als andere Kinder, die herumspringen können und denen das Lernen leichtfällt. Spastiker werden Menschen umgangssprachlich genannt, die von der infantilen Zerebralparese betroffen sind. Spastiker - es klingt so abwertend, und doch weiß jeder mit diesem Begriff etwas anzufangen. Kann eine Spastikerin wie Franka auf eine normale Schule gehen - gemeinsam mit nicht behinderten Kindern?

7.45 Uhr auf dem Parkplatz vor der Bugenhagenschule in Alsterdorf: Dorothe Fiedler parkt den blauen Familienkombi und stemmt ihre Tochter Franka in den Rollstuhl. Das ist die einzige Starthilfe, die Franka an diesem Morgen von ihrer Mutter braucht. Die Zehnjährige greift mit ihren kräftigen Händen in die Greifringe des "Rollis" und saust lachend weg. Ihr Schulranzen klemmt vorne am Rollstuhl. "Halt! Du kriegst noch einen Kuss von mir!", ruft ihr Dorothe Fiedler hinterher. Zu spät.

Franka will zu ihren Freunden in die Schule. Es gibt viel zu erzählen. Nach einer Operation an der Hüfte musste sie in die Reha, sie hat viel Unterricht und den neuesten Tratsch versäumt. Franka geht gerne in die Schule. Sie war hier in Alsterdorf schon in der integrativen Kita - seit der ersten Klasse geht sie auf die Bugenhagenschule.

"Lerngruppe IIg" steht an der Tür. 24 Schülerinnen und Schüler hat die Klasse. Die Schüler sitzen in Gruppen zusammen. Einige der Kinder haben eine Behinderung. Sie sitzen zwar nicht im Rollstuhl, doch sie haben einen Herzfehler oder sie können sich schlecht konzentrieren. Normal ist das hier, an der Bugenhagenschule. Denn die Inklusion, über die in diesen Wochen an den Hamburger Schulen alle sprechen, wird hier bereits seit fast zwei Jahrzehnten praktiziert.

Ab diesem Schuljahr sollen behinderte und nicht behinderte Kinder gleiche Chancen haben und überall in Hamburg am normalen Unterricht teilnehmen. Inklusion bedeutet: Alle Kinder sind gleich, egal wie verschieden sie sind - und ob sie verhaltensauffällig, körperlich eingeschränkt oder geistig behindert sind.

Von den Lehrern wird viel verlangt: Sie sollen individuell auf jeden Schüler eingehen, damit auch die Hochbegabten sich nicht langweilen. Pro Klasse sollen höchstens vier Kinder mit "sonderpädagogischem Förderbedarf" sitzen. Für diese Kinder bekommen die Schulen mehr Ressourcen. Zu wenige Ressourcen, wie die Lehrer kritisieren. In diesen Tagen erreichen viele Beschwerden die Schulbehörde - von Eltern und von Lehrern, die beklagen, dass Inklusion nicht funktioniert.

Das Beispiel Franka und die Bugenhagenschule zeigen, wie Inklusion gelingen kann. Sie funktioniert vor allem, weil ihre Lehrer in einem eigenen Fortbildungshaus speziell dafür ausbildet werden und weil Eltern dieses Konzept bewusst für ihre Kinder wählen. Und weil das christliche Leitbild, alle sind Geschöpfe Gottes, von allen getragen wird. Der Unterschied zu den Stadtteilschulen ist, dass die Kinder hier Schulgeld zahlen, Frankas Eltern geben 150 Euro im Monat aus. Ein weiterer Unterschied ist, dass sich die Privatschule ihre Schüler aussuchen kann - während die Stadtteilschulen alle Kinder aufnehmen müssen. Das muss man wissen, wenn man die Bugenhagenschule für ihr vorbildliches Konzept lobt.

"Lerngruppe" heißt die Klasse, weil jahrgangsübergreifend gelernt wird. Die Kinder wären an anderen Schulen in der vierten, fünften und sechsten Klasse. Franka ist eine Viertklässlerin. An der Bugenhagenschule lernen die Kinder gemeinsam - es ist normal, unterschiedlich weit zu sein in der Entwicklung. Die jüngeren Schüler können sich an den älteren orientieren, die älteren können den Jüngeren helfen.

An der Bugenhagenschule gibt es keinen Frontalunterricht - sondern Lerngruppen, Projekte und Freiarbeit. Der Mathe-Lehrer schickt seine Schüler schon mal raus, sie sollen eine Verkehrszählung machen. Und danach aus den gezählten Autos, Lkw und Fußgängern ein Säulendiagramm anfertigen. Die Schüler sollen selbstständig lernen - und die Lehrer zu Beobachtern werden, die gezielt fördern. Die Lehrer an der Bugenhagenschule finden, dass ein Schulabschluss kein Problem ist, wenn man ein Kind konsequent fördert. Bis zur siebten Klasse gibt es keine Noten, sondern Entwicklungsgespräche mit Schülern und Eltern - und am Ende des Schuljahres einen detaillierten Bericht. Bis zu drei Pädagogen unterrichten an der Bugenhagenschule zeitgleich eine Lerngruppe. An diesem Tag sind zwei von ihnen in Frankas Klasse: Klassenlehrerin Hedda Böhme und Sozialpädagogin Ina Müller. Manchmal ist auch eine Sonderpädagogin dabei.

Hedda Böhme beginnt den Unterricht mit dem "15-Minuten-Schreiben". Eine Viertelstunde sollen die Schüler an einer eigenen Kurzgeschichte arbeiten - ganz egal, welche Handlung sie hat. Die Kreativität der Kinder soll gefördert werden. Franka beugt sich über ihr Heft. Die Buchstaben kommen langsam aufs Papier, Franka streicht durch, ergänzt, streicht wieder durch. Nach fünf Minuten steht dort: "Ich sah auf einer Wiese for mir ein braunes Pferd. Es war wunderschön." Ihr Klassenkamerad Tom schreibt eine Geschichte über seinen "Dackel Dödel". Die Geschichte ist voller Witze - die Klasse kichert, als er sie später vorliest. Franka sagt, dass sie nicht so gerne schreibt und liest.

Doch bald wird es ein Projekt geben, in dem ihre Lese- und Schreibschwäche nicht so sehr auffällt: Nach den Herbstferien will Hedda Böhme zusammen mit allen Schülern einen Roman schreiben. Frankas Klasse liest schon seit einigen Wochen das Buch "Die Insel der 1000 Gefahren". "Hast du schon drin gelesen?", fragt Frankas Freundin Georgina, die neben ihr sitzt. Nein, hat sie nicht, sie hat das Buch erst am Vortag bekommen.

Georgina erklärt, dass der Leser selbst entscheidet, wie die Handlung des Buches abläuft: Alle stranden auf einer einsamen Insel - wie es danach weitergeht, ist offen. Franka beginnt zu lesen, sie fährt mit dem Finger über die Buchstaben, ihr Mund malt die Buchstaben nach.

Im Anschluss sollen die Kinder ihre eigene Geschichte aufmalen. Hedda Böhme hat Arbeitsgruppen gebildet: Die Kinder, die ihr Bild schon gemalt haben, bereiten einen kleinen Kurzvortrag vor. Jesse ist dran. Er stellt sich nach vorn und pinnt seine Zeichnung an die Tafel. Dann erzählt er ohne Manuskript die Geschichte von der einsamen Insel, auf der er gestrandet ist - und die er mit einem Segelschiff in Richtung San Francisco verlassen hat. Die anderen Kinder klatschen.

Demnächst, sagt Lehrerin Böhme, werden auch Kinder wie Franka einen Vortrag vor der Klasse halten. Dann, wenn sie bereit dafür sind. Wenn sie den anderen Kindern, die vor ihr dran waren, genug zugeschaut haben.

Sozialpädagogin Ina Müller ist meistens im Unterricht dabei, unterstützt die Lehrer. Und beobachtet die Kinder. Wenn sie sieht, dass es Konflikte gibt, bittet sie die Streithähne in das Zimmer neben dem Klassenraum. Dort schaut sie auch in das "Bugi-Buch", das jeder Schüler führt - eine Art Zielvereinbarung zwischen Schülern und Lehrern. Die Schüler tragen ein, was sie sich für die Schulwoche vornehmen, was sie im Unterricht gemacht haben und was sie verbessern möchten. Es gibt Regeln in der Klasse. Über den Köpfen der Kinder hängt jeweils eine Sonne, Wäscheklammern symbolisieren die Strahlen. Wer dazwischen quasselt, verliert eine Klammer. Wer keine mehr hat, der muss den versäumten Unterricht nacharbeiten, wenn die anderen spielen.

Ina Müller hat ein besonderes Auge für Kinder wie Franka. Weil sie selbst im Rollstuhl sitzt. Ina Müller war zehn, morgens fuhr sie noch mit dem Fahrrad, nachmittags stolperte sie über ihre Füße, abends konnte sie ihre Füße nicht mehr bewegen. Ein Virus im Rückenmark, die Ärzte konnten ihr nicht helfen. "Für mich war es selbstverständlich, weiter auf eine normale Schule zu gehen", sagt Ina Müller. Sie kannte es ja nicht anders. Für die Eltern ihrer Klassenkameraden war das nicht so selbstverständlich. Diese befürchteten, dass sich die Lehrer nur um das Mädchen im Rollstuhl kümmern und die anderen vernachlässigen. Ein Schulleiter fragte Müllers Eltern damals, wem er es zumuten solle, neben Ina zu sitzen. "Seitdem hat sich viel getan, doch bis wir wirklich die Integration an allen Schulen geschafft haben, ist es noch ein weiter Weg", sagt Ina Müller. Sie wollte etwas bewegen in Sachen Inklusion. Deshalb wurde sie Sozialpädagogin. Seit zehn Jahren arbeitet sie hier.

Zusammen mit der Sonderpädagogin ist Müller aufgefallen, dass sich eine weitere Schülerin mit dem Lernen schwertut. Sie hat Angst vor Fehlern - und denkt deshalb häufig gar nicht erst nach. Die Sonderpädagogin bittet das Mädchen in den Nebenraum und macht Arbeitsblätter, die extra für Kinder mit Förderbedarf entwickelt wurden. Ein normaler Vorgang in der Lerngruppe, die Lehrer achten darauf, keins der Kinder als Förder-Kind zu brandmarken. Auch die guten Schüler werden in den Nebenraum gebeten.

Der Englisch-Unterricht hat begonnen, die Lehrerin Nicole Brandt teilt die Klasse in zwei Gruppen. Die Viertklässler gehen nach nebenan, begleitet von Ina Müller. Franka kann sich nicht alleine von ihrem Stuhl in den Rollstuhl setzen, sie braucht Hilfe. Dafür ist Ricarda Tanduo da, die 20-Jährige macht ein freiwilliges soziales Jahr. Sie soll Franka helfen, sie aber nicht bemuttern. Also hilft sie ihr, sich umzusetzen. Aber sie hilft ihr nicht, die HSV-Federtasche aus dem Ranzen zu holen. Es dauert einige Minuten, bis die kleine Lerngruppe zusammengefunden hat. Daran sind die Schüler offenbar gewöhnt, denn keiner wird ungeduldig. Überhaupt ist es im Unterricht häufig laut und unruhig. Lehrer in Inklusionsklassen müssen gute Nerven haben.

"Kannst du Englisch, Franka?", fragt Georgina. "Ja", sagt Franka, in der Reha waren arabische Kinder, mit denen hat sie englisch gesprochen.

Jetzt lernen die Schüler, wie man Schulsachen auf Englisch bezeichnet. "Rubber" steht da, oder "pencil". "Wie schreibt man pencilcase?", will Franka von Georgina wissen. Als diese zu schnell buchstabiert, protestiert Franka: "Ich bin nicht so schnell." Wenig später ist es Franka, die Liv erklärt, wie man pencilcase schreibt.

Inklusion findet an der Bugenhagenschule nicht nur im Klassenzimmer statt. Sondern auch im Sportunterricht, an dem Franka teilnimmt. Wenn die anderen Fangen spielen, spielt Franka mit - und darf geschoben werden. Wenn die anderen auf Geräten turnen, macht Franka Sport auf einer Turnmatte.

Es ist Mittagspause an der Bugenhagenschule. Georgina, Valerie und Liv begleiten Franka in die Kantine. Valerie bringt Franka einen Puten-Döner mit, Georgina liefert den Salat dazu. Die Mädchen unterhalten sich, Franka berichtet von ihrer OP, fünf Stunden hat die gedauert. Liv und Valerie werfen verstohlenen Blicke auf die Jungs aus der Klasse, die ein paar Tische entfernt sitzen. "Ich spiele auch mit Jungs", bemerkt Franka. Da sei doch nichts dabei.

Auch nach der Schule treffen sich die Mädchen. Sie spielen Uno zusammen. Sie fahren Fahrrad, Franka hat ein Dreirad. Oder sie spielen Fangen. Dass Franka behindert ist und die anderen nicht, ist für die Freunde kein großes Thema. Frankas Mutter, Dorothe Fiedler, erinnert sich an einen Satz, den Valerie mal gesagt hat. Der Satz hat sie bewegt, und er sagt viel über Inklusion aus. Valerie sagte: "Franka ist nicht behindert. Sie kann nur nicht laufen."