Es gibt bei Lesungen immer zwei Teile: Zunächst liest der Autor aus seinem Werk. Danach beantwortet er Fragen. Gut, er (oder sie) liest nicht immer selbst. Manchmal übernimmt ein Schauspieler diesen Job oder der Übersetzer - wenn das literarische Werk in einer anderen Sprache als der deutschen verfasst wurde. Wenn der Autor selbst liest, findet dies das Lesepublikum meistens spannender: Komischerweise ist es sehr interessiert an der sinnlichen Erfahrung der literarischen Stimme. Noch interessierter ist es an der altbekannten Frage, was uns der Autor denn damit - der Geschichte, dem Roman, dem Werk - eigentlich sagen will.

Weshalb die Herzstücke auch des Harbour Front Literaturfestivals die offenen Runden nach dem Leseteil sind. Der Moderator ist ja meist jemand vom Fach, und deshalb stellt er die naheliegenden Fragen nicht, das verbietet er sich. Umso wichtiger, dass der Leser aus dem Publikum hilfreich zur Seite springen kann - und einfach mal fragt, ob der Autor denn manches in dem Buch Geschilderte nicht vielleicht selbst erlebt habe!?

Lesungen können ernst sein und lustig, sie können die Literatur weihevoll wie auf einem Altar präsentieren oder zur popkulturellen Veranstaltung mit Musik und Tanz transformieren. Und sie können überraschen: Weil man nie weiß, was sich so ergibt, wenn das Gespräch über Bücher in Gang kommt. Am Hamburger Hafen hat die Literatur jetzt zum vierten Mal ihren großen Auftritt. Unter den Autoren sind Chad Harbach und Teju Cole aus Amerika, Sadie Jones aus England, Anthony McCarten aus Neuseeland, die Amerikanerin Donna Leon aus Italien, Zeruya Shalev aus Israel. Aus Deutschland stammen Autoren wie Uwe Timm, Ingo Schulze und Nora Bossong. Außerdem ist in Hamburg die erste Liga der deutschsprachigen Erzähler zu Gast: Mehrere Veranstaltungen sind den Nominierten für den Deutschen Buchpreis gewidmet. Im Debütantensalon konkurrieren die Neulinge um den Klaus-Michael Kühne-Preis. Außerdem haben die Macher des Literaturfestes wieder ein großes Krimi- und Kinder/Jugendbuch-Programm aufgelegt.

Stimmt es wirklich, dass wir in einem Zeitalter leben, in dem die Lesekultur abnimmt? Auf dem Harbour Front Festival zumindest zeigt sich die Literatur in guter Form: Vielseitig und selbstbewusst auch vor großem Publikum, dabei immer die Nase im Wind.

Ihr Thomas Andre