“NDR Das Alte Werk“ erkundet den Markusdom

Die Hervorbringungen eines Komponisten als Sammlung "Best of"? Das klingt nach brillantem Marketing einer Plattenfirma und obendrein befremdlich, eitel, selbstreferentiell. Doch im Falle Claudio Monteverdis hat einfach das Leben selbst die Feder geführt. In Sammelwerken wie der "Selva morale e spirituale" vereinigte der große Tonsetzer an der Schwelle von der Renaissance zum Barock geistliche Werke unterschiedlichster Genres in fortschreitender Entstehungszeit: tönende Enzyklopädien der enormen Vielfalt an Stilen, die Monteverdi während seiner Jahre in Venedig verwendete.

Zur Saisoneröffnung der Reihe "NDR Das Alte Werk" in der Laeiszhalle bitten das Ensemble "Concerto Italiano" und sein Gründer und Leiter Rinaldo Alessandrini sowie der RIAS Kammerchor zur Hamburger Erstaufführung eines Vespergottesdienstes von Claudio Monteverdi - na ja, beinahe jedenfalls. Alessandrini, ein akribischer Quellenforscher und furioser Musiker, hat sich nicht nur als Operndirigent, sondern auch auf dem Gebiet der Sakralmusik einen Namen gemacht: als "überschäumend, leidenschaftlich detailverliebt und vollklangfarbig" feierte ihn die "Süddeutsche Zeitung". Dieser Besessene hat aus besagten Sammelwerken ein Oratorium zusammengestellt, wie es vor bald 400 Jahren im Markusdom von Venedig erklungen sein könnte.

Man macht sich keine Vorstellung von der Bedeutung des Ortes für das damalige Europa. Venedig war eine Musikstadt von internationaler Ausstrahlung. Monteverdi bekleidete als Kapellmeister am Markusdom eins der wichtigsten musikalischen Ämter seiner Zeit, was er für weitreichende praktische Neuerungen nutzte: So etablierte er einen Chor, engagierte Gesangsvirtuosen und ließ wieder Messen singen. Vor allem aber beteiligte er sich mit seinen Kompositionen und musiktheoretischen Schriften an der rasanten Fortentwicklung der Musik.

Viele günstige Bedingungen haben zu der einzigartigen Blüte der sogenannten Venezianischen Mehrchörigkeit beigetragen, deren räumliche Wirkung der Musik einen überwältigenden klanglichen Reichtum und eine nie gekannte Eindringlichkeit verlieh. Äußerlich betrachtet, war es der riesige Kirchenraum, der das Musizieren in getrennten Aufstellungen begünstigte, gab es im Markusdom doch zahlreiche einander gegenüberliegende Emporen. Erstmals bezogen Komponisten den Aufführungsraum in ihre Werke ein: Sie verteilten die Musik auf mehrere kleine Ensembles, die von verschiedenen Stellen aus einander antworteten oder sich zu einem Gesamtklang vereinigten.

Doch die Ursprünge dieser Entwicklung reichen weiter. Ein neues Bewusstsein der Räumlichkeit durchdrang damals viele Lebensbereiche. Angesichts der politischen Verwerfungen infolge der Reformation strebte die katholische Kirche - und mit ihr die venezianische Dogenrepublik - danach, die eigene Macht möglichst prächtig zur Schau zu stellen. Auch die Entdeckung der Perspektive in der Malerei fällt in diese Zeit, ebenso die Entdeckung und Eroberung Amerikas und die Erkenntnis, dass nicht die Sonne um die Erde kreist, sondern umgekehrt.

In eine andere Hochburg europäischer Musik führt das Programm des zweiten Abokonzerts, nämlich nach Wien. Aber nicht in das galante, amüsierwütige Wien Mozarts, Beethovens, Schuberts, das wir alle zu kennen glauben. Nein, der Geiger Gunar Letzbor und das Ensemble Ars Antiqua Austria reisen musikalisch in das Wien des 17. Jahrhunderts, das Wien des den schönen Künsten zugetanen Kaisers Leopold I. Die größten Stars seiner Zeit hat er an den habsburgischen Hof geholt: zahlreiche Komponisten aus Italien, das damals als das Musikland schlechthin galt, aber auch Georg Muffat, Johann Heinrich Schmelzer und Heinrich Ignaz Franz Biber. Diese Namen sagen heute allenfalls eingefleischten Liebhabern etwas. Das könnte und sollte sich aber ändern. Kaum jemand hat so fantasievoll, vielseitig und witzig für die Geige komponiert wie Biber - und so virtuos. Allein wie unbekümmert der Komponist seinen Interpreten die Saiten umstimmen lässt oder welch aberwitzige Tempi er ihm mehrstimmig abverlangt, kann einen traditionell ausgebildeten Geiger zur Verzweiflung bringen. Dazu braucht es womöglich den Tropfen ungarischen Bluts, auf den viele Wiener so stolz sind. Er steht stellvertretend für das Vielvölkergemisch, das Wien ausmacht und das die einzigartige Musiktradition dieser Stadt vielleicht erst möglich gemacht hat.

Die Abokonzerte der Saison 2012/13:

Concerto Italiano, RIAS Kammerchor, Rinaldo Alessandrini 25.9.

Ars Antiqua Austria, Gunar Letzbor 30.10.

Al Ayre Español, Eduardo López Banzo 21.11.

Akademie für Alte Musik Berlin, Bejun Mehta 30.1.2013

Concerto Köln, NDR Chor, Philipp Ahmann 27.2.2013

Ensemble Pygmalion, Raphaël Pichon 23.4.2013

Alle Konzerte 20.00, Laeiszhalle. Karten unter T. 0180/1787980* oder www.ndrticketshop.de