Wer sie sucht, genießt die Momente des Schweigens. Manchmal ist es aber auch schwer, Stille auszuhalten. Für alle, die sich nach kleinen Ruhe-Inseln in der hektischen Stadt sehnen, haben wir zehn Orte gefunden

Über die Stille zu schreiben ist nicht leicht. Sobald man anfängt zu schreiben, ist die Stille dahin, in den Gedanken und im Raum: Die Tastatur klappert dann. Und nichts klingt für einen Journalisten mehr nach Arbeit als das Klappern einer Tastatur. Also wandert man los. In Gedanken, mit einem Stift und einem Block, auf dem man nur das notiert, was man gerade hört. An einen Ort, an dem nichts klappert und niemand stört; an dem alles so ist, als würde man zum ersten Mal hier sein: zum ersten Mal in einer neuen Welt.

Stille ist dann vielleicht so etwas wie eine Reise. Aber keine, die man verkaufen kann, wie es die Unternehmen machen, die Reisen ins "Reich der Stille" vermarkten, weil es dort still ist. Was ja auch stimmt. Wenn man allein ist. Und nur dann. Aber kennen Sie jemanden, der von sich aus allein in die Wüste gegangen ist - also irgendjemanden nach Jesus? Ich kenne niemanden. Und ich hätte es mich auf meiner Reise durch die Sahara vor ein paar Jahren auch niemals getraut.

Das "Reich der Stille" erlebte ich im Schlepptau einer Reisegruppe, was mich nicht weiter störte. Denn gemeinsam erlebten wir eine Landschaft, die uns die Worte nahm, und das fühlte sich schön an, manchmal wie ein großes Glück: minutenlanges, gemeinsames Schweigen. Die Welt, in die man schaute, war groß und klein zugleich. Nur das Wesentliche lag darin, der Himmel, die Erde, und dazwischen - nichts. Beim Einschlafen wurde die Stille persönlich. Kroch durch Zeltwände und das Nachthemd, und ich weiß noch, wie ich dachte: Das muss jetzt so sein. So war es hier immer. Bis ich selbst in einen tiefen Schlaf tropfte.

Seitdem denke ich, dass es eine gute Stille gibt, zum Beispiel die am Morgen nach einer Nacht in der Wüste. Und eine schlechte, das ist das Aufwachen aus einem bösen Traum, das Wachliegen. Schlaflose Nächte sind still. Trauer ist still, das Abschiednehmen: Denn die eigene Stille ist ja auch oft nur die Stille der anderen. Stille ist etwas, das man mag, wenn man sie braucht. Und das irritiert, wenn es einfach daherkommt, ungefragt.

Stille ist etwas, das einem guttut, man hört das immer wieder, vielleicht ist es sogar die größte Sehnsucht unserer Zeit. Wir werden überall beschallt, sind immer erreichbar, sprechen immerzu. Deshalb suchen Menschen Orte der Stille. Wo es keine Geräusche gibt und keinen Lärm, aber manchmal denke ich trotzdem, dass all das Gerede über Stille heutzutage eine riesengroße Heuchelei ist, denn wer hält das schon aus: den Lärm der eigenen Gedanken. Stille war für mich über Jahre: in eine leere Wohnung kommen. Das alles alleine machen. Über den Tag nachdenken, ein Essen kochen. Aus dem Fenster schauen. Deshalb wohne ich gern in der Stadt. Man sitzt auf dem Fensterbrett und schaut in die Leben von Menschen. Sie sind einem nicht nah, aber man überlegt, was sie gerade tun, und dann denkt man weniger über sich selbst nach. Gedanken können so laut sein.

Till Lindemann, Sänger der Brachialrockband Rammstein, hat neulich in einem Interview gesagt, dass er den Lärm hasst. Man muss dazu wissen, dass Lindemann viel Geld mit dem Lärm verdient, er ist Musiker, und wenn Menschen von einem Rammstein-Konzert kommen, lächeln sie selig, sind aber für eine gewisse Zeit lang taub.

Till Lindemann sagt also, dass er den Lärm hasst. Deshalb verlässt er Berlin, wann immer er kann, und flieht in ein Dorf zwischen Wismar und Schwerin. "Dort schlafe ich nachts im Wald und horche, dort höre ich in die Natur. Sagenhaft, was du nachts im Wald hörst. Das ist unbeschreiblich schön." Ich habe Till Lindemann sehr bewundert, als ich das gelesen habe. Nicht weil in seinem Leben Lärm und Stille perfekt harmonieren. Sondern weil er sich traut, allein im Wald zu schlafen. Was würde man nicht alles hören in einer Nacht allein im Wald. Vielleicht wäre das der schönste Text über Stille, der jemals geschrieben wurde, und vielleicht würde man Kurt Tucholsky fragen, würde er noch leben. "Es gibt vielerlei Lärm", hat der mal festgestellt, "aber es gibt nur eine Stille."

Stille im Alltag ist zu einem so kostbaren Gut geworden, dass Menschen sie nur noch andernorts finden. Im Kloster zum Beispiel oder in der Yogastunde nach Büroschluss. Manche setzen sich abends allein in einen Park.

Der Schriftsteller Wilhelm Genazino hat über das moderne Leben gesagt, dass es uns zwingt, schnell und viel zu sehen, damit wir uns orientieren können. Fast zehn Jahre ist das Interview alt, da gab es noch nicht einmal Smartphones. "Die eigentlichen Möglichkeiten des Schauens gehen dabei verloren", fügte er hinzu. "Man muss sich das bewusst machen und nach Möglichkeit zurückkehren zum gedehnten Blick, der erst einsetzt, wenn nach allgemeiner Meinung nichts mehr zu sehen ist."

Ich habe diese Sätze oft gelesen, weil ja auch wir Journalisten davon leben, von den gedehnten Blicken, wir brauchen sie für unsere Porträts und Reportagen. Und ich habe immer versucht, daraus zu lernen. In der Stille meiner Wohnung habe ich es nicht geschafft. Jedenfalls nicht am Anfang. Aber es gab Orte, an die ich gehen konnte. Die einen das Blickedehnen gelehrt haben. Die Kirche der Stille in Altona zum Beispiel. Die Kältekammer im Globetrotter. Das Untergeschoss in der Galerie der Gegenwart, wo seit ein paar Jahren ein Tropfstein entsteht.

Orte der Stille gibt es überall, man muss sie nur suchen. Es sind Bahnsteige ohne Menschen und Flughäfen ohne Durchsagen. Der einzige Reisende, auf den es ankommt, ist man selbst. Es hat seine Zeit gedauert, aber inzwischen gehe ich gern auf diese Reise. Weil ich weiß, dass nicht immer der Lärm in mir ausbricht, wenn es um mich herum still wird. Auf jeden Fall scheue ich die Stille seitdem nicht mehr. Ich suche sie.

Die Autorin ist stellvertretende Leiterin des Abendblatt-Kulturressort