Das Verhältnis von Nomaden und Sesshaften ist das Thema einer außergewöhnlichen Ausstellung im Museum für Völkerkunde

Sie sind die anderen, die Fremden, die kommen und gehen. Sie haben keine Wurzeln, denn sie bleiben nie lange. Ihre Spur verliert sich, wenn der Sand sie verweht. Für die Sesshaften bleiben Nomaden fremd, manchmal werden sie verdächtigt, mitunter verfolgt, oft versucht man sie anzusiedeln, sesshaft zu machen, meistens ohne Erfolg.

Seit Jahrtausenden gibt es Nomaden, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Nomaden sind auch im 21. Jahrhundert kein Anachronismus, sondern in vielen Ländern der Erde Normalität. Aber wie vertragen sich nomadische Lebenswelten mit den sesshaften Gesellschaften? Diese Frage steht im Zentrum einer Ausstellung, die das Museum für Völkerkunde jetzt gemeinsam mit Wissenschaftlern der Universitäten Leipzig und Halle-Wittenberg sowie dem Institut für Länderkunde, dem Helmholtz Institut und dem Max Planck Institut für ethnologische Forschung zeigt. Grundlage dieser umfangreichen Schau ist ein mehr als zehn Jahre andauerndes Projekt des Sonderforschungsbereichs "Differenz und Integration", an dem Archäologen, Ethnologen, Geografen, Historiker und Orientwissenschaftler beteiligt sind.

Die Ausstellungsfläche erstreckt sich auf insgesamt 1000 Quadratmeter, aber sie bildet keine räumliche Einheit, sondern ist im Haus verteilt. "Die Art der Präsentation soll dem Gedanken des Nomadischen entsprechen. Die Besucher wandern durchs Haus und erleben das Thema in seiner Flexibilität und in seiner Grundbedingung, der Mobilität", sagt Annegret Nippa, die Projektleiterin und Direktorin des Instituts für Ethnologie in Leipzig.

Noch bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein war das Leben der meisten Menschen in sesshaften Gesellschaften ausgesprochen immobil. Erst seit der Einführung der Eisenbahn Mitte des 19. Jahrhunderts und der Verbesserung der Verkehrswege wurde es auch in Deutschland möglich, den eigenen Lebensumkreis in größerem Maß zeitweilig zu verlassen. Zuvor hatte der Bauer den näheren Umkreis seines holsteinischen Dorfs oder der Beamte seine bayerische Kleinstadt kaum verlassen. Allenfalls Handwerker konnten einmal im Leben auf Wanderschaft gehen und andere Gegenden kennen lernen.

Aber es gab in Deutschend auch die Zigeuner, ein fahrendes Volk, das Scheren und Messer schärfte oder andere Dienstleistungen anbot. Zigeuner wollten nicht sesshaft leben, sie wollen es bis heute nicht. In der Zeit des Nationalsozialismus haben Hunderttausende ihr Unangepasstsein mit dem Leben bezahlt.

Das Verhältnis von Sesshaften und Nomaden beschreibt die Schau unter dem Titel "Brisante Begegnungen - Nomaden in einer sesshaften Zeit", denn das Aufeinandertreffen gegensätzlicher Lebensweisen birgt Zündstoff. "Differenz und Integration", "Austausch und Handel", "Natur und Tier - Arbeit und Produkt" und "Herrschaft und Kontrolle" heißen die vier Bereiche, in die das Thema gegliedert ist.

"Nomaden und Sesshafte bilden einerseits einen Gegensatz, ihr Verhältnis gründet sich aber zugleich auf Gegenseitigkeit. Einerseits gibt es Abgrenzungsmomente, andererseits einen ständigen Austausch", erklärt die Leipziger Ethnologin Andreea Bretan, die zum Kuratorenteam gehört.

Nomadismus ist eine mobile Wirtschafts- und Gesellschaftsform, die sich vor allem, aber keineswegs ausschließlich auf Viehzucht gründet. Und der Wandel der technologischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen kann auch zu neuen Formen des Nomadismus führen. So gibt es in modernen Gesellschaften zunehmend Jobnomaden, also Menschen, die eine spezialisierte berufliche Tätigkeit an ständig wechselnden Orten wahrnehmen. Die vielen Millionen Wanderarbeiter, die das Rückrat der chinesischen Bauindustrie bilden, kann man als Jobnomaden bezeichnen. Interessant ist, dass viele zeitgenössische Künstler den Nomadismus als etwas betrachten, mit dem sie sich in ihrer mobilen und flexiblen Lebensweise identifizieren.

Dieser Aspekt ist Thema einer ergänzenden Kunstausstellung, die für Anfang Februar 2012 geplant ist. Als Katalog zur Ausstellung liegt ein besonderes Format vor: 'Das Kleine abc des Nomadismus'. Die Artikel in dem reich bebilderten Buch wurden von unterschiedlichen Wissenschaftlern aus dem Sonderforschungsbereich geschrieben. 'Das Kleine abc des Nomadismus' erläutert zentrale Begriffe, die in der Ausstellung und in der Forschung eine Rolle spielen. Es vermittelt Grundlagenwissen zum Thema Nomaden und ihren brisanten Beziehungen zu Sesshaften.

Im Gewölbesaal im ersten Stock steht das vielleicht spektakulärste Objekt der Ausstellung: ein syrisches Beduinenzelt, das aus schwarzer Ziegenwolle besteht. Wenn die Besucher hineintreten, werden sie über die Größe verblüfft sein, denn das Zelt, das ein Neuzugang ist und nach der Ausstellung weiterhin vom Museum genutzt wird, fasst mindestens 20 Personen. Nebenan in der Europa-Abteilung geht es um das "Innenleben" einer Jurte.

Dort ist systematisch ausgebreitet, was zum Hausrat einer Nomadenfa-milie zählt: Die Textilien, Truhen, Geschirre und Gebrauchsgegenstände werden den Bereichen der Jurte zugeordnet, die jeweils Männern und Frauen, aber auch Tätigkeiten wie dem Kochen vorbehalten sind. Konfrontiert wird dieses Objekt-Ensemble mit dem großformatigen Bild, das eine britische Familie mitsamt ihrem Hausrat vor dem Eigenheim zeigt. Eine weitere Station befindet sich im Indonesiensaal, in dem eine Karawanserei aufgebaut ist, jene Kommunikations- und Raststätten, an denen sich die Teilnehmer von Karawanen trafen, Informationen austauschten und mit frischen Vorräten versorgten.

Der Hauptteil der Ausstellung befindet sich im großen Saal. Dort herrscht Steppenatmosphäre. Man sieht Dermoplastiken von Tieren, die die Lebensgrundlage von Nomaden bilden. Stadt und Steppe, Sesshaftigkeit und Nomadentum sind die Gegensätze, denen hier thematisch nachgegangen wird. Aber schon die Ausstellungsarchitektur macht die wichtigste These der Schau deutlich: Beide Wirtschafts- und Gesellschaftsformen beziehen sich aufeinander, beide gehören zur Realität, auch in unserer globalisierten Welt.

Brisant Begegnungen - Nomaden in einer sesshaften Welt bis 20.5.2012, Museum für Völkerkunde, Rothenbaumchaussee 64, Di-So 10.00-18.00, Do bis 21.00