Die 35-jährige Russin studiert Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Altenpflege - und ist eine der behinderten Kommilitoninnen an der HAW Hamburg.

Menschen gilt das Interesse von Anna Schaaf. Beruflich vor allem älteren. Sie kommt schnell mit ihnen ins Gespräch. Anna Schaaf ist Russin, studiert Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Altenarbeit an der HAW Hamburg - und sitzt im Rollstuhl.

Ursprünglich wollte die 35-Jährige Jura studieren und Staatsanwältin werden. "Im Rollstuhl war das dann nicht mehr möglich", sagt Anna Schaaf. Auch wegen der Entfernung: Von ihrer Heimatstadt hätte sie dafür 2000 Kilometer bis in Russlands Hauptstadt pendeln müssen - 36 Stunden dauert die Fahrt mit der Bahn.

Als Anna mit 18 Jahren nach einer Operation ihre Beine nicht mehr spürte, war das ein Schock - und das Ende ihrer beruflichen Pläne. "Erst habe ich gehofft, dass sich noch etwas ändert. Ich brauchte fast zwei Jahre, um meine Behinderung zu begreifen und mich darauf einzustellen. Körperlich und mental." Zunächst gab Anna Schaaf Kindern Nachhilfe. Dann begann sie einen sozialpädagogischen Fernlehrgang und arbeitete mit behinderten Kindern. Als sie das Internet nutzen konnte, suchte sie im Netz Gleichgesinnte. Sie fand Sergej - einen Mann, der durch einen Autounfall querschnittgelähmt ist und ebenfalls im Rollstuhl sitzt. Sergej lebte im damals fernen Deutschland - in Bad Oldesloe. Dorthin war er aus Sibirien gezogen, mit seiner Familie. Die beiden wurden Freunde, Anna besuchte ihn, und sie verliebten sich.

2003 zog Anna nach Bad Oldesloe. Das Paar heiratete. Einen Deutschkurs für Ausländer musste sie nicht mehr machen, denn die Sprache gehörte schon zu ihrem Schulpensum in Russland. "Das war eine Erleichterung", sagt Anna Schaaf. Sie absolvierte ein neunmonatiges Praktikum an einer Oldesloer Schule, arbeitete mit Migrantenkindern. Damals wurde auch ihr Interesse für Sozialpolitik geweckt, sie stellte oft Vergleiche zwischen dem Leben in Russland und dem in Deutschland an. Dann der Gedanke: "Über ältere Menschen weiß ich nichts. Probier ich also mal etwas Neues." Anna Schaaf machte ein Praktikum in einer Alten- und Pflegeeinrichtung. "Bei uns zu Hause in Russland ist es normal, seine Eltern selbst zu pflegen. Das ist eine Ehrensache - auch wenn es anstrengend ist." 2007 beginnt die zielstrebige Frau, die sich selbst als neugierig beschreibt, schließlich das Studium Soziale Arbeit an der HAW Hamburg.

Behindert ist man nicht, behindert wird man, lautete eine Kampagne der Aktion Mensch. Um das zu verdeutlichen, sagt Professor Dieter Röh, Behindertenbeauftragter der HAW Hamburg: "Eine Kurzsichtigkeit ist eine gesundheitliche Funktionsbeeinträchtigung - genauso wie die Depression oder auch die Querschnittlähmung. Und alle drei sowie viele andere gesundheitliche Störungen beeinträchtigen das Studium und sollten mit Augenmaß durch strukturelle, organisatorische und persönliche Änderungen möglichst kompensiert werden." Dennoch: Nur etwa die Hälfte der Hamburger U-Bahnstationen ist mit einem Rollstuhl zu erreichen. Von Bus und S-Bahn sowie Regional- oder Fernbahn ganz zu schweigen. Außerdem kommen, so Röh, noch die Barrieren in den Köpfen der Menschen hinzu. "Kann man Soziale Arbeit studieren, wenn man eine soziale Phobie hat? Oder mit Kindern arbeiten, wenn man selbst ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom hat?"

Als Beauftragter für behinderte und chronisch kranke Studierende, sagt Röh, sei es seine Aufgabe, solche Fragen mit Professoren, Hochschulmitarbeitern und Studenten zu diskutieren und zu beraten. "Wir wollen positive Rahmenbedingungen für ein gelingendes Studium an der HAW Hamburg fördern. Einiges muss man hinnehmen, aber vieles kann man verändern." Am einfachsten sei dies bei baulichen Barrieren. So wurden in den vergangenen Jahren an der Hochschule Türen verbreitert und Lifte sowie Rampen gebaut.

Ihren Bachelorabschluss hat Anna Schaaf bereits. Sie ist damit Fachberaterin für Altenhilfe und Pflege und arbeitet neben ihrem Studium 20 Stunden in der Woche Teilzeit beim Paritätischen Wohlfahrtsverband Hamburg e.V. "Mir macht es Spaß, mit alten Menschen zu sprechen, ihre Einsamkeit zu durchbrechen und sie zu motivieren." Ihren Master wird sie 2013 in der Tasche haben. "Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg", sagt sie bescheiden. Sie komme an der Hochschule gut zurecht. Nur manchmal machen ihr bauliche Hindernisse oder die Tischhöhe Probleme. "Vieles nimmt etwas mehr Zeit in Anspruch als bei anderen Studenten", sagt Anna Schaaf.

Sie rät Studierenden, die Beratungsangebote der Hochschule zu nutzen. "Auch bei einer Schwerstbehinderung ist ein Studium möglich, man kann eine Assistenz beantragen." Es beschäftigt sie, dass die Menschen beim Stichwort Behinderung immer gleich an den Rollstuhl denken. "Es gibt auch Gehörlose, Blinde und psychisch Kranke. Wie kommen sie im Studium zurecht?"