Verkehrsplaner Carsten Gertz über zukunftsweisende Politik, Umweltzonen, Citymaut, große Rückschritte und neue Gestaltungsmöglichkeiten

Wie mobil kann eine umweltgerechte Stadt sein, was muss sie fördern und wie kommen eigentlich Verkehrsplaner selbst zur Arbeit? Über solche Fragen sprach das Abendblatt mit Carsten Gertz, 45, Professor der Technischen Universität Hamburg-Harburg. Gertz leitet dort das Institut für Verkehrsplanung und Logistik und forscht vor allem über die Zusammenhänge zwischen Siedlungsstrukturen und Verkehr. Seine These: Der Radverkehr schafft im städtischen Verkehrsgeschehen eine "stille Revolution".

Hamburger Abendblatt:

Eine möglichst große Mobilität für die Bewohner schaffen und gleichzeitig Umwelthauptstadt zu sein - ist das für Hamburg nicht schon ein Widerspruch?

Carsten Gertz:

Das muss kein Widerspruch sein, auch wenn es natürlich Zielkonflikte gibt. Verkehrspolitik ist auch Umweltpolitik, wenn man Lösungsansätze für die Lärmreduzierung und Luftqualität definiert.

Und da mangelt es Hamburg an klaren Zielen?

Gertz:

In Hamburg hat sich die Verkehrspolitik in der Vergangenheit zu sehr auf den Ausbau der Infrastruktur konzentriert - und weniger auf das Erreichen von Umweltzielen.

Klingt nicht gerade nach Umwelthauptstadt?

Gertz:

(lächelt) Nun, ich würde sagen, der Bereich Verkehr hat hier wohl nicht den Ausschlag gegeben ...

Andere Städte machen es besser?

Gertz:

Andere Großstädte haben früher begonnen, Umweltziele zum Maßstab der Verkehrspolitik zu machen.

Citymaut und Umweltzone hätten dabei in Hamburg wohl Fortschritte gebracht - diese Projekte sind aber gestoppt.

Gertz:

Umweltzone oder Citymaut können bei richtiger Ausgestaltung einen Beitrag leisten, um Umweltziele zu erreichen - doch in Hamburg wurde die Debatte gleich über Pro und Kontra geführt, ohne dass zuvor über Ziele gesprochen wurde. Zunächst stellt sich doch die Frage, was man erreichen möchte. Geht es um eine Reduzierung der Lärm- und Luftbelastung, um eine Förderung des Nahverkehrs oder um einen Finanzierungsbeitrag zur Infrastruktur? Erst, wenn es einen breiten Konsens darüber gibt, welche dieser Ziele erreicht werden sollen, kann die Diskussion über eine mögliche Umsetzung beginnen. Eine zukunftsweisende Verkehrspolitik ist das Schlüsselthema für eine höhere Lebensqualität in der Stadt. Eine Verbesserung ist nur möglich, wenn unterschiedliche Maßnahmen miteinander kombiniert werden. Ein großes, in Hamburg noch kaum erschlossenes Potenzial bieten zum Beispiel organisatorische Maßnahmen des Mobilitätsmanagement, bei denen unter Einbeziehung von Unternehmen und Schulen individuelle Lösungen für eine verstärkte Nutzung des Nahverkehrs und des Rades entwickelt werden.

Gibt es da schon Beispiele in Hamburg?

Gertz:

Ja, Lufthansa Technik. Das Unternehmen fördert beispielsweise Fahrgemeinschaften seiner Mitarbeiter.

Welche Rolle spielt der Radverkehr?

Gertz:

Sehen Sie, es wird viel über Elektroautos gesprochen - dabei ist der Anteil an den über 40 Millionen Kfz in Deutschland noch verschwindend gering. Doch der Radverkehr ist der aktuelle Gewinner. Hier erleben wir durch die Verkaufszahlen von Elektrofahrrädern gerade eine stille Revolution. Es gibt eine enorme Entwicklung, die dem Benutzer ganz andere Distanzen erlaubt, die er in kurzer Zeit überwinden kann.

Und dann in Hamburg über Buckelpisten holpern muss ...

Gertz:

Im Ausbau des Radverkehrsnetzes, etwa durch neue Radfahrstreifen, hätte man aber die Möglichkeit, mit verhältnismäßig geringem Aufwand schnell Verbesserungen zu erreichen. Dazu gehört aber auch ein Ausbau der Bike-and-ride-Stellplätze an den Bahnhöfen oder Überlegungen, wo die Leute in der Stadt die Elektroräder sicher abstellen können.

Noch beherrschen jedoch die zahlreichen Staus die Meldungen über den Hamburger Verkehr. Könnte der Ausbau des Straßennetzes wie mit der Hafenquerspange oder einem Autobahnring um Hamburg Entlastungen bringen?

Gertz:

Gerade auf der A 1 und der A 7 überlagern sich Fern- und Regionalverkehr, die entlastenden Wirkungen einer großräumigen Umfahrung dürfen daher nicht überschätzt werden. Der Großteil der Verkehre in der Region ist hausgemacht. Und für die Hafenquerspange gilt: Das eigentliche Problem ist nicht die fehlende Querverbindung innerhalb des Hafens, sondern vor allem das Stück zwischen östlichem Hafenrand und A 1, wo sich Konflikte in den Wohngebieten ergeben - darüber muss man sich Gedanken machen.

Stichwort Hafen: Nach vielen Prognosen wird sich der Containerumschlag mehr als verdoppeln, wie soll der Weitertransport auf dem vorhandenen Straßennetz geschafft werden? Schon jetzt werden dort immer wieder Staus gemeldet.

Gertz:

Hier gilt es, den Schienentransport konsequent auszubauen - und da hat Hamburg mit einem Anteil von rund 30 Prozent schon einen vergleichsweise hohen Anteil.

Noch einmal zum Personenverkehr. Die Stadtbahn ließ sich gegen den Bürgerwillen nicht durchsetzen - sollte man das Projekt komplett erledigen?

Gertz:

Städte mit einer Überlagerung unterschiedlicher Schienensysteme haben eine bessere Abdeckung des Stadtgebiets mit attraktiven Nahverkehrslinien. Aufgrund von Kapazitätsengpässen auf vielen Buslinien und steigenden Anforderungen an umweltfreundliche Mobilität ist es für Hamburg sicher ein Rückschritt, dass die Einführung der Stadtbahn nun bereits zum zweiten Mal kurz vor dem Ziel abgebrochen wurde.

Stattdessen soll Hamburg nun das "beste Bussystem Europas" bekommen.

Gertz:

Das ist sicherlich in der jetzigen Situation die richtige Entscheidung. Doch man darf sich nichts vormachen: Auch die Förderung des Busverkehrs erfordert hohe Investitionen, und mehr Busspuren sowie die Bevorrechtigung an Ampeln bergen eine Menge Konfliktstoff. Da wird es noch an vielen Ecken der Stadt Diskussionen geben.

Wie wichtig ist für eine Stadt die Kontinuität in der Verkehrspolitik?

Gertz:

Städte, die beim Radverkehr oder auch Nahverkehr besonders erfolgreich sind, zeichnen sich durch eine kontinuierliche Förderung dieser Bereiche über einen längeren Zeitraum aus. Vor diesem Hintergrund ist es sicherlich das größte Dilemma der Hamburger Verkehrspolitik, dass Hamburg als eine der wenigen Großstädte in Deutschland keinen aktuellen Verkehrsentwicklungsplan hat, der die Leitlinien und Maßnahmen für die kommenden Jahre definiert. Dadurch fehlt ein verkehrspolitischer Konsens aller relevanten Gruppen.

Es fehlt der lange Atem?

Gertz:

Für die Verwaltung ergibt sich die unbequeme Situation, dass immer wieder neue Grundsatzdiskussionen notwendig werden und diese Zeit dann für die Umsetzung von Maßnahmen fehlt. Auch angesichts steigender Umweltstandards der EU ist es ratsam, dass Hamburg zusammen mit dem Umland eine verkehrsträgerübergreifende Strategie für die Metropolregion entwickelt. Dabei ist es wichtig, das Thema Verkehr nicht nur isoliert zu betrachten.

Warum?

Gertz:

Ausschlaggebend für die künftige Verkehrsentwicklung sind Standortentscheidungen, insofern wäre es vorteilhaft, wenn beispielsweise neue Wohnprojekte möglichst gut durch den Nahverkehr erschlossen sind.

In der Vergangenheit war das gerade in den Umlandgemeinden nicht der Fall - heute quälen sich die Pendler jeden Tag durch Staus.

Gertz:

Da hat es aber ein Umdenken gegeben; wir beobachten, dass weniger Menschen ins Umland ziehen. Bei solchen Umzügen werden die niedrigeren Wohnkosten durch hohe Mobilitätskosten aufgefressen.

Und Sie selbst, wo wohnen Sie?

Gertz:

Als Verkehrsplaner habe ich da mit meiner Familie eine bewusste Entscheidung getroffen: zehn Minuten zu Fuß von hier und ganz in der Nähe einer S-Bahn-Station.

Da braucht man dann wohl kaum noch ein Auto. Welche Bedeutung wird Ihrer Meinung nach der Individualverkehr mit dem eigenem Fahrzeug in der Zukunft noch haben?

Gertz:

Da hat es bereits Veränderungen gegeben. Bei jungen Erwachsenen hat das Auto inzwischen keine so hohe Bedeutung mehr als Statussymbol. Konzepte wie Carsharing oder Radleihsysteme gewinnen an Bedeutung. Klimaschutzziele sowie die große Abhängigkeit des Verkehrssystems vom Öl stellen zunehmend die bisherige Verkehrspolitik auf den Prüfstand. Vor diesem Hintergrund ergeben sich unbequeme Wahrheiten - und neue Gestaltungsspielräume.