Sie geben Kindern Halt und Orientierung: Sechs Fragen und Antworten, wie Rituale das Leben überschaubarer machen

Wie wäre das Jahr ohne die Feiertage, ohne sonntägliche Kuschelzeiten, ohne die tägliche Gutenachtgeschichte? Sehr viel eintöniger und haltloser. Wir haben diese Rituale lieb gewonnen und sie helfen, den Tag, die Woche und das Jahr zu strukturieren. Katharina Gralla, dreifache Mutter, hat sich viel mit Ritualen beschäftigt. Sie ist Schulpastorin an der evangelischen Wichern-Schule in Hamburg-Horn, feiert Gottesdienste und Andachten im Alltag, zu Beginn und am Ende der Schulzeit.

1. Warum sind Rituale für uns Menschen so wichtig?

Katharina Gralla:

Die Welt ist unüberschaubar, chaotisch, komplex und schnell. Man muss lernen, sich darin zurecht zu finden. Das gilt für Kinder, aber auch für Erwachsene. Dabei helfen Rituale. Sie ordnen das Chaos, weil sie Zeiten und Räume strukturieren. Das gibt Sicherheit und Orientierung. Wenn wir zum Beispiel regelmäßig dreimal am Tag essen, dann wird ein Tag überschaubarer. Für Kinder ist ein unstrukturierter Tag von morgens bis abends eine halbe Ewigkeit. Eine Woche ist noch viel länger. Sie braucht deshalb auch einen Rhythmus, eine feste Form, damit sich ein Kind darin aufgehoben fühlt.

Es lohnt sich zu überlegen: Wie gestalten wir einen Sonnabend? Was machen wir am Sonntag? Kinder mögen es, wenn sie verlässlich wissen, dass am Sonnabend Nachmittag immer Familienzeit ist oder es sonntags nach einem großen Gekuschel immer Brötchen gibt und dann geht es vielleicht in die Kinderkirche. Solche Wochenendrituale sind Ankerpunkte, die Halt geben und zwar nicht nur Kindern. Das Jahr bekommt eine Grundstruktur durch Geburtstage und Urlaube, und natürlich durch die Feiertage.

2. Welche Rolle spielen die christlichen Feste in unserem Jahresrhythmus?

Gralla:

Sie sind das Urgestein aller Rituale. Sie sind sehr alt und tief in unserer Kultur verwurzelt. Sie geben uns Sicherheit durch ihre Wiederholung. Sie geben uns ein Gefühl für den Sinn unseres Lebens, weil wir ihn ihnen unseren großen Lebensthemen begegnen: Geburt und Tod, Leiden und Befreiung, Verzweiflung und Lebenslust: Weihnachten, Karfreitag, Ostern, Pfingsten. Feste durchbrechen unseren Alltag. Sie lassen uns spüren, dass Menschsein mehr ist als Arbeit und Konsum. Das vergessen wir immer wieder gerne, deshalb ist die Wiederholung so wichtig, für die die Kirchen sorgen. Alle Jahre wieder...

3. Sind diese Feiertage auch für Kinder von Bedeutung?

Gralla:

Ja, Kinder haben ein besonders gutes Gespür, dass Feste im Leben wichtig sind. Sie feiern gern. Und wenn es jedes Jahr die gleichen Feste sind, die in der gleichen Weise gefeiert werden, dann erleben sie, wie sie wachsen und größer werden. In einem Jahr glauben sie noch an den Weihnachtsmann, im nächsten Jahr tun sie es nicht mehr und merken, wie sie größer geworden sind. Feste geben also nicht nur dem Jahr eine Struktur, sondern schaffen durch die Wiederholung ein inneres Gerüst im Lebenslauf.

4. Wie kann man das Jahr für Kinder besonders gestalten?

Gralla:

Gerade die christlichen Feste bieten vieles, was Kindern großen Spaß macht. Das nächste Fest ist Erntedank. Da kann man mit den Kindern in die schön geschmückte Kirche gehen und sich erinnern, wie gut es ist, dass wir genügend zu essen haben, aber dass das nicht allen Menschen auf der Welt so geht. Danach kommen im November die Totengedenktage. Ein guter Anlass wenigstens einmal im Jahr mit den Kindern auf einen Friedhof zu gehen, um die Gräber von verstorbenen Verwandten zu besuchen. In der Weihnachtszeit kann man im Kerzen auf dem Adventskranz anzünden. Kekse backen und Weihnachtslieder singen, beim Krippenspiel Maria sein. Das alles macht sinnlich erfahrbar, dass es besondere Zeiten im Jahr gibt, in denen wir die Mühle des Alltags verlassen.

5. Welche alltäglichen Rituale helfen Kindern, innerlich gesund und stabil aufzuwachsen?

Gralla:

Kinder mögen Rituale, weil es für sie wichtig ist, vorhersehen zu können, was als nächstes passiert. Sie mögen keine Blindflüge und sind von ständiger Abwechslung nicht begeistert. Kinder, die mit wenig Struktur und Ritualen aufwachsen, sind oft unruhig, unsicher und nervös, nicht selten auch aggressiv. Sie fühlen sich einfach verloren in einer unüberschaubaren Welt. Je kleiner die Kinder desto mehr. Also ist es die Aufgabe von Erwachsenen für Verlässlichkeit zu sorgen. Drei feste Rituale am Tag reichen. Zum Beispiel: Jeden Morgen das Kind zur Tür bringen und sich bewusst für den Tag verabschieden. Vor dem Essen beten. Abends eine Geschichte vorlesen und oder durch ein Gebet den Tag abschließen Ein Ritual ist dann gut und sinnvoll, wenn das Kind es liebt. Rituale im Alltag soll man Kindern nicht aufzwingen. Sie sollen ja den Kindern dienen. Nicht umgekehrt. Manche Rituale halten ein ganzes Familienleben, andere verändern sich immer wieder.

6. Es gibt bei Kindern einschneidende Übergänge im Leben - wie vom Kindergarten zur Schule. Wie kann man ihnen diese erleichtern?

Gralla:

Rituale sind bei allen Übergängen besonders hilfreich und wichtig. Denn ein Abschied aus dem Kindergarten, der Neuanfang in der Schule, das sind ja Ereignisse, die ein Kind mit sehr verschiedenen Gefühlen beschäftigen: Trauer und Angst, Neugier und Freude, alles wild durcheinander. Da ist es gut, etwas zu machen, um die Gefühle zu ordnen und den Übergang von einem zum anderen bewusst zu gestalten. Christliche Kindergärten und Schulen legen viel Wert darauf, dass die Kinder nicht einfach raus- und reinstolpern. Erst ein bewusster und durchlittener Abschied ermöglicht einen guten neuen Anfang. Da haben die Kirchen einen großen Erfahrungsschatz, zum Beispiel mit Gottesdiensten, die bei Übergängen helfen.