Tango gegen Parkinson: Evangelische Stiftung Alsterdorf bietet einen Tanzkursus für Erkrankte an. Die Wirksamkeit der Therapie ist belegt

Hamburg. Ein großer Fuß berührt den Boden, ein wenig zaghaft tastend zuerst, dann fester und bestimmt. Sein Gegenüber, kleiner und in einem hochhackigen Schuh, folgt. Tänzelt plötzlich schneller hin und her. Ein Ocho, die berühmte Tango-Acht. Dann noch ein Beinhaken, Gancho genannt. Füße suchen sich ihren Weg, Hände berühren und spüren, fühlen und führen einander. Und erst diese Blicke: eben noch hochkonzentriert, bald innig und voller Vertrauen. Da ist ein Flirt, da ist Erotik. Es ist Tango Argentino.

Es ist eine Therapie. Aber das ist Albert Schultz, dem Mann, zu dem die großen Füße gehören, am Anfang gar nicht bewusst gewesen. Inzwischen ist der Tänzer der Patient. Und Barbara Schultz, seine Tanzpartnerin und Ehefrau, ist seine Therapeutin. Das allerdings hört die 60-Jährige nicht gern. Denn wo das Wort Therapie ins Spiel komme, da höre der Spaß auf. Ohne Spaß aber gehe es nicht. "Wer Spaß hat, kann alles umsetzen", sagt sie. Tango Argentino zum Beispiel, seit vielen Jahren die große Leidenschaft des Paares.

Dass ausgerechnet die eine heilende Wirkung hat, ist indes mittlerweile wissenschaftlich erwiesen. Tango hilft bei Parkinson. Der pensionierte Lehrer Albert Schultz, 73, weiß seit zwei Jahren, dass er erkrankt ist. "Ich hatte plötzlich Gleichgewichtsstörungen und Schwindelgefühl", sagt er. "Und es kam zu unkontrollierten Bewegungen des linken Armes." Der Hausarzt schickte ihn sofort zu einer Neurologin. Sie kam zu einer eindeutigen Diagnose und verschrieb Schultz Dopamin.

An Dopamin, einem sogenannten Neurotransmitter, mangelt es Parkinson-Erkrankten. Diese biochemischen Botenstoffe geben Informationen von einer Nervenzelle zur nächsten weiter. Dopamin wirkt auf die Teile des Gehirns, die unter anderem für die Motorik von Bedeutung sind. Wo der Stoff fehlt, kommt es zu Störungen.

Es sei denn, der Patient tanzt eben Tango. Aber dieser Zusammenhang hat sich Albert Schultz erst spät erschlossen. "Ich habe durch Zufall in einer wissenschaftlichen Zeitschrift darüber gelesen, dass Tangomusik das Kleinhirn stimuliert", sagt er. Er spürt am eigenen Leib, dass das stimmen muss. Inzwischen ist seine Dopamin-Medikation reduziert worden. Er fühlt sich wieder einigermaßen gesund.

Barbara Schultz, Leiterin der Physiotherapie bei Theravitalis, einer Abteilung der evangelischen Stiftung Alsterdorf, hat daraufhin sogleich einen Tanzkreis ins Leben gerufen. Immer sonntagnachmittags kommen sie zusammen. Dann wird aus einem Therapieraum ein Tanzsaal, dann gleiten sie vor den verspiegelten Wänden übers Parkett, aneinandergeschmiegt, und vergessen Zeit und Raum.

Albert Schultz trägt, ganz Tangotänzer, ein schmal geschnittenes, dunkelgraues Oberhemd und eine schwarze Hose mit auffallend kräftigen weißen Streifen. Dazu schwarze Budapester Schuhe mit rotem Einsatz. Barbara Schultz hat ein elegantes schwarzes Oberteil ausgewählt. "Festliche Kleidung", sagt sie, "ist ein Muss." Denn schließlich sei das ja eben keine Therapie. Aus Amerika hat Barbara Schultz abschreckende Bilder gesehen. Auch dort tanzen sie Tango gegen Parkinson, aber - eins, zwei, Wie-ge-schritt, zack und rumms - unter Neonlicht, die Therapeuten im weißen Kittel, die Patienten im Trainingsanzug. "Sieht grausam aus", sagt Schultz. "Therapie im Trockendock" nennt sie das, was ihrer Philosophie zuwiderläuft. Sie möchte lieber Normalität vermitteln und leben.

Einziges Zugeständnis an das Publikum dieser besonderen Tanzstunde ist der Termin am Sonntagnachmittag. "Wer Tango tanzt, taucht eigentlich ab", sagt sie, "taucht ab in die Nacht." Aber abends seien Menschen, die an Parkinson erkrankt sind, manchmal ein bisschen zu müde.

Ilias Oikonomou heißt der Tanzlehrer, den sie verpflichtet haben, ein Grieche. Er praktiziert einen ganz eigenem Stil, ist ein Verfechter der Improvisation. Er kennt nur ein Vorwärts, ein Rückwärts und ein Seitwärts. Alles andere liegt in den Händen der Tänzer, liegt auch in Albert Schultz' Händen. "Wenn ich führe und die Frau spürt, was ich vorhabe, dann ist das ein enormes Erfolgserlebnis", sagt er, "dann ist das einfach ein schönes Gefühl." Die Tänzer müssen immer wachsam sein, hochkonzentriert, sie müssen gut aufpassen. Denn jede Wendung kann eine Überraschung in sich bergen. Die Musik - der Grieche Oikonomou bevorzugt "Non-Tango", also eigentlich alles und nichts - erlaubt nahezu jede Schrittfolge, anders als bei Standardtänzen kann sie kaum Orientierung bieten. Auch all diese Faktoren stimulieren das Gehirn an entscheidender Stelle.

Der Neurologe und Parkinson-Experte Dr. Hans Kolbe aus Hannover hat sich kürzlich eine Tangostunde angesehen. Barbara Schultz: "Er hat gesagt: Ich habe 30 Jahre geforscht. Aber so etwas habe ich noch nie gesehen." Auch Kolbe empfiehlt Tango.

Die Kurse sind begehrt. Der nächste beginnt am 18. September und ist schon nahezu ausgebucht. Im Januar kommenden Jahres soll ein weiterer folgen. 100 Euro kostet die Teilnahme pro Person, dafür bekommen die Teilnehmer achtmal anderthalb Stunden Unterricht. Gerade ist Barbara Schultz auf der Suche nach Spendern, um auch Menschen mit wenig Geld eine Teilnahme zu ermöglichen.

Eigentlich müsste so ein Kursus von der Krankenkasse bezuschusst, wenn nicht sogar komplett finanziert werden. Barbara Schultz sagt, sie habe sich noch nicht darum gekümmert. Tanzen auf Krankenkassenkarte - womöglich hätte auch das in ihren Augen zu sehr den Beigeschmack einer Therapie.

Lieber tauchen sie alltags regelmäßig tatsächlich immer noch in die Nacht ab. "In Hamburg ist die Szene außerordentlich stark vertreten", sagt Albert Schultz. Es ist ja schließlich sogar gut für die Gesundheit. Und um dichter dran zu sein an dieser Szene, sind sie gerade umgezogen. Raus aus dem Einfamilienhaus im Vorort Rahlstedt, rein in eine Wohnung im Schanzenviertel.

Wer sich über die Tanzkurse in der evangelischen Stiftung Alsterdorf informieren möchte, erreicht die Zentrale von Theravitalis unter der Telefonnummer 50 77-35 48.