Experten prognostizieren, dass Ferndiagnosen an Bedeutung gewinnen werden - und dass auch die Patienten davon profitieren können

Hamburg. Prof. Uwe Kehler und Dr. Florian Würschmidt können in die Köpfe von Menschen gucken. Das ist keine Floskel, sondern eine Tatsache. Sie können sogar gleichzeitig in denselben Kopf schauen, während sie doch an unterschiedlichen Orten sind: Kehler, der Chefarzt, in der Neurochirurgie in der Asklepios Klinik Altona, der Strahlenmediziner Würschmidt im Ärztezentrum an der Mörkenstraße.

Das funktioniert dank der sogenannten Telemedizin. Als Telemedizin wird bezeichnet, wenn Daten - Röntgenbilder oder Aufnahmen aus dem Magnetresonanztomograf (MRT) etwa - elektronisch ausgetauscht werden. So kann diagnostiziert und behandelt werden, ohne dass Ärzte und Patient am selben Ort sein müssen. "Das ist gerade in Gegenden nützlich, in denen die ärztliche Versorgung nicht so umfassend ist wie in Großstädten", sagt Kehler. Aber auch in Städten wie Hamburg steigere Telemedizin die Effizienz.

"Für die Behandlung von Hirntumoren beispielsweise sind viele verschiedene Fachärzte notwendig", sagt Kehler. "Aber nicht immer sind sie am selben Ort." Das ist ein Problem, denn wenn eine Behandlung geplant wird, müssen alle auf die Planungsbilder Zugriff haben. "Hin-und herschicken dauert lange, Hin-und herfahren noch länger", sagt Kehler. Deshalb gibt es nun einen Server, auf den alle Ärzte zugreifen können. Es kann eingetragen werden, aus welcher Richtung ein Tumor bestrahlt werden kann, ohne den Hirnstamm des Patienten oder seine Augen zu schädigen. Das Bestrahlungsgerät kann millimetergenau ausgerichtet werden.

Stereotaktische Hirnoperation nennt sich das. Gerade sprechen Kehler und Würschmidt über eine Patientin, auf deren Tumor Strahlen aus 15 Richtungen treffen werden. 1,7 Tonnen Gerät, gesteuert von Eingaben, die beide Mediziner zuvor mit Kollegen festgelegt haben. "Die Ärzte kommunizieren mehr und treffen Entscheidungen öfter gemeinsam, weil es nun schneller und einfacher geht", sagt Kehler. Davon profitierten die Patienten. Kehler sieht in der Telemedizin die Zukunft. "In zehn Jahren werden alle Praxen und Krankenhäuser vernetzt sein."

Eine Studie des Beratungshauses Roland Berger unterstützt diese Einschätzung. Sie hat ergeben, dass der europäische Gesundheitsmarkt weiter wachsen wird - im Bereich Telemedizin und E-Care bis zum Jahr 2014 sogar um jährlich bis zu 19 Prozent. Bereits im Jahr 2007 benannte die EU den E-Health-Markt als einen besonders zukunftsträchtigen Wirtschaftszweig. Denn wegen der demografischen Entwicklung steigt die Zahl chronisch Erkrankter, und viele, die regelmäßig in Praxen oder Krankenhäuser müssen, könnten künftig zu Hause betreut werden - zusätzlich zum Arztbesuch. Denn Telemedizin soll den persönlichen Kontakt nicht ersetzen, sondern ergänzen.

Wie so etwas aussehen kann, erklärt jemand, der den Menschen direkt in die Herzen sieht: Prof. Karl-Heinz Kuck, Chefarzt der Kardiologie in der Asklepios Klinik St. Georg. "Normalerweise müssen Patienten mit Herzschrittmachern oder implantierten Defibrillatoren regelmäßig in die Klinik kommen, um die Daten ablesen zu lassen", sagt er.

Nun gibt es eine neue Geräte-Generation, etwa ein Drittel teurer als die alte, aber: "Die Werte können zu Hause überwacht werden. Der Datentransfer erfolgt telemonitorisch." Der Patient kann seine Daten selbst übermitteln. Er hält ein Lesegerät an seinen Herzschrittmacher oder Defibrillator. Das stellt dann eine Verbindung mit einer Art Callcenter her. Auch bei Diabetes, Asthma oder Herzinsuffizienz gibt es ähnliche Techniken. Sind die Werte auffällig, wird dem Patienten mitgeteilt, dass er sich an seinen Arzt wenden soll. "Wir streben an, dass das Callcenter rund um die Uhr für den Patienten erreichbar ist", sagt Kuck. Beim Hamburger Pilotprojekt reagiert das Rechenzentrum bislang weder nachts noch an den Wochenenden. Irgendwann, hofft Kuck, wird eine breite Vernetzung der Kliniken untereinander möglich sein. So weit ist es noch nicht, auch wenn daran bereits gearbeitet wird. Neurochirurg Uwe Kehler: "Bislang gibt es teilweise Probleme mit den Datenschutzrichtlinien." Sie müssen strikt eingehalten werden, sonst machen sich die Krankenhäuser strafbar. "Es dauerte sehr lange, bis wir eine sichere Internetverbindung hatten, eine Datenschutzabteilung hat das geprüft. Aber nun sind die Daten so sicher wie Geld in einem Banktresor."

Der Datenschutz ist nicht die einzige Hürde. Auch wenn es bundesweit nach Auskunft des Instituts für Arbeit und Technik rund 270 Projekte im Bereich Telemedizin gibt und der Kostendruck im Gesundheitswesen Alternativen zur klassischen Versorgung fordert: Das Gesundheitssystem ist komplex, es gibt auch Probleme mit der Abrechnung bei den Krankenkassen. Auch sind die Anschaffungskosten der technischen Komponenten hoch, man benötigt geschultes Personal für die Einrichtung der Systeme und in den Callcentern. "Telemedizin ist für Industrie und Krankenkassen hochinteressant, aber viele wollen erst Studien sehen. Und wir brauchen erst Geld für die Studien", sagt Kuck. "Die, die durchgeführt wurden, belegen, dass sich die telemedizinische Überwachung bei Herzschrittmachern und Defibrillatoren volkswirtschaftlich rechnet, bei anderen Krankheiten, beispielsweise Herzinsuffizienz, ist der Nachweis noch nicht gelungen."