Tisch "Hamburg" ist seiner. Ganz langsam steuert Christian Brandt durch den lichten Gastraum darauf zu. Vor sich hält er ein Tablett. Zwei Kaffeetassen, ein Käsefrühstück. "Vorsicht", ruft er. Die Augen sind zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, so sehr konzentriert er sich. Als alles vor den Gästen steht, dreht sich um und läuft zurück in die Küche. "Muss weitermachen." Seit ein paar Monaten arbeitet Christian Brandt im Cafe Ursprung in der Hammer Christuskirche. Als ein neuer Gast kommt, ist er sofort zur Stelle. In weinrotem T-Shirt und passender Schürze. Nichts bestellen, das gibt es nicht an Tisch "Hamburg".

Es ist Christian Brandts erster Job. Er ist einer von zehn Menschen mit Behinderungen, die in dem Integrationsprojekt der methodistischen Gemeinde und der alsterdorf assistenz ost, einem Tochterunternehmen der Evangelischen Stiftung Alsterdorf, eingesetzt sind. Monatelang hat er dafür geübt. "Es ist eine große Herausforderung für ihn", sagt Sozialpädagogin Margrit Boje. Und eine Riesenchance. Christian Brandt gehört zu den drei Prozent Kindern, die mit einer geistigen Behinderung geboren werden. Er hat eine Fehlbildung im Kleinhirn. Die Folgen sind ähnlich wie bei Menschen mit Down Syndrom. Für vieles, was den Alltag und ein selbstbestimmtes Leben ausmacht, braucht er Unterstützung. Außer seinem Namen kann er nicht schreiben, Worte erkennt er am Bild. In seiner geistigen Entwicklung ist er auf dem Stand eines Zwölfjährigen. Tatsächlich ist er 28 Jahre alt. "Die Arbeit im Café passt. Er hat in letzten Monaten eine große Entwicklung gemacht", sagt Boje, die ihn auch in der Tagesförderstätte Schiffbekerweg in Billstedt betreut. "Er wird immer erwachsener."

Fast wirkt es so, als ob er gerade schneller lebt, als ob er etwas aufzuholen hätte. Er ist gern unterwegs. Am liebsten allein. Ohne jemand, der ihm sagt, was er soll und was nicht. Kreuz und quer fährt er mit Bahn und Bus durch Hamburg. Er war auch schon in Rostock, in Lübeck und in Güstrow - in einer Schneenacht ohne gültige Fahrkarte. Sein Vater musste ihn auf der Polizeiwache abholen. Sein nächster Plan ist eine Reise nach Schwerin. Da wohnt Uwe, der Fahrer des Behinderten-Fahrdienstes, der ihn jeden Morgen abholt. Christian Brandt sucht die Freiheit.

"Selbst ist der Mensch" steht auf der Internetseite der alsterdorf assistenz ost. "Jeder Mensch hat das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben, auf die Verwirklichung seiner Unabhängigkeits- und Freiheitswünsche. Jeder Mensch braucht Annahme, Gemeinschaft und Bedeutung für andere." Das Unternehmen mit 700 Mitarbeitern bietet unterschiedliche Hilfsangebote für Menschen mit Behinderungen. Das reicht von persönlicher Betreuung bis hin zu Tageseinrichtung und auch Wohnmöglichkeiten. Von den 420 000 Menschen mit einer geistigen Behinderung in Deutschland bleiben die meisten bei ihrer Familie. Nur 12 000 Betroffene leben in Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe oder allein. "Wenn man will, dass behinderte Menschen integriert werden, muss man in die Quartiere gehen", sagt Ilse Westermann, die bei der alsterdorf assistenz ost für die Bildungs- und Beschäftigungsangebote zuständig ist. "Es geht um Hilfe zur Selbsthilfe. Wir wollen Menschen befähigen, ihr Leben so weit wie möglich selbst in die Hand zu nehmen."

Im letzten Jahr ist Christian zuhause ausgezogen. Er wollte das. Weg aus dem großen Haus in Neuengamme. Weg von Mutter und Vater. Weg von seinen beiden Geschwistern und den fünf Pflegekindern der Brandts. Er ist der älteste. "Mein großes Küken", sagt seine Mutter. Es ist Ingrid Brandt nicht leicht gefallen, ihren Sohn gehen zu lassen, das spürt man. "Er ist ein unheimlich zufriedener Mensch, mit vielen Interessen und manchmal sehr charmant. Wir hätten viel verpasst, in einem Leben ohne Christian", sagt die 55-Jährige. Aber er könne auch sehr stur sein, wenn er seine Ideen durchsetzen wolle. "Richtig stressig wird es, wenn er nicht einsieht, dass er etwas nicht darf." Dann zieht die Wut in sein offenes Gesicht. Die helle Stimme wird dunkel. Und manchmal schlägt er um sich. Je älter er wurde, desto häufiger passierte es. "Es war einfach Zeit, dass er allein wohnt. Für uns war es auch gut", sagt Ingrid Brandt.

Christian Brandt wohnt seit Januar 2010 in einem betreuten Wohnhaus in Wandsbek-Hinschenfelde. Stolz holt er seinen Schlüssel aus dem Rucksack und öffnet die Tür zu seiner Wohnung. Es gibt eine kleine Küche, ein großes Bett, einen Fernsehapparat mit Sessel davor. Im Regal stapeln sich die Schachteln mit Puzzeln mit bis zu 2000 Teilen. Puzzeln kann Christian gut. Bei vielen anderen Alltagsverrichtungen braucht er Unterstützung. Beim Anziehen zum Beispiel, beim Duschen und für seine Windeln. In der Kategorisierung des Hilfebedarfs ist er in Gruppe vier, das ist die zweithöchste. Exakt eine Stunde und 50 Minuten Betreuungszeit pro Tag stehen ihm zu, dazu kommen drei weitere Termine in der Woche, etwa für Bankbesuche. Und fürs Einkaufen. Seit er sich selbst versorgt, hat er 14 Kilo zugenommen. Manchmal hat er von seinem Wochengeld drei Pakete Leberkäse auf einmal gekauft und gleich aufgegessen. Jetzt übt er mit einem Betreuer, wie man es besser macht. Ein paar Kilos sind schon runter.

Christian Brandt gefällt sein neues Leben. Wenn er morgens zum Frühstück Bananenmilch will, macht er sich die. Wenn er abends Fernsehen gucken will, stört das niemand. Und wenn er einsam ist, geht er in die Gemeinschaftsräume im Erdgeschoß. Manchmal gibt es auch Konflikte. Dann kann auch mal anstrengend werden - für alle. Wenn Worte nicht ankommen, wenn er zum Beispiel nicht verstehen will, dass man die anderen Bewohner nicht immer wieder piesacken darf. "Christian muss auch lernen, sich auf andere Menschen einzulassen und Rücksicht zu nehmen", sagt Hausleiterin Ingrid Beermann. Inzwischen ist die Hausgemeinschaft sein Zuhause. Von dort aus macht er seine Erkundungstouren in die Umgebung. So hat er das Fitness-Studio entdeckt.

Dort zeigt Christian Brandt am Eingang der McFit-Filiale stolz seinen Mitgliedsausweis. Dann marschiert er zusammen mit Curtis, der gerade ein Freiwilliges Soziales Jahr macht, zielstrebig Richtung Männer-Umkleide. "Beim ersten Mal war er ganz allein da", erzählt Studioleiter Oliver Dreyer. Seine Mitarbeiter hätten nicht so recht gewusst, wie sie mit ihm umgehen sollten und schickten ihn weg. Aber Christian Brandt ließ nicht locker. Einige Tage später stand er wieder im Studio. "Ich war beeindruckt von seinem Willen", sagt Dreyer. "Wir haben dann abgemacht, dass er ein paar Probetrainings macht. Und dass, er eine Begleitung braucht, weil wir sonst nicht für seine Sicherheit garantieren können." Seine Mitarbeiter habe er in Gesprächen entsprechend sensibilisiert. "Offenheit ist wichtig." Jetzt kommt Christian Brandt immer mittwochs. Als erstes geht er aufs Fahrrad, tritt ein in den stampfenden Rhythmus des Studiobetriebs. Und hört erst auf, denn der digitale Zeitmesser auf "Null" ist. Zwanzig Minuten ist er dann gefahren. "Nicht anstrengend", sagte er. Er fällt auf zwischen den durchtrainierten Körpern. Und ja, manchmal gibt es auch abschätzige Blicke, aber selten.

Und er würde sie auch nicht bemerken. Dass er anders ist als die anderen, ist für Christian Brandt keine Kategorie"Selber machen", das ist ihm wichtig. Seine Wünsche und Pläne unterscheiden sich letztlich nicht von denen anderen Heranwachsender. Ins HSV-Station gehen, auf den Dom, unterwegs sein, Leute treffen, Spaß haben. Der Job im Café gehört auch dazu. Morgen früh ist er wieder da. Er wird die Tische eindecken und Kaffee servieren. Am Nachmittag will er seine Eltern besuchen. Dann ist es Christian, der seine Mutter bei ihrer Arbeitsstelle abholt. "Ich kann allein", sagt er.