Angefangen hat es mit einem Lolli. So einem kleinen, mit rosa-weißen Streifen. Ilse Waack liebt die. Immer wenn ihre Betreuerin Einkaufen war, hatte sie einen für sie in der Tasche. Eines Tages kam sie ohne zurück. "Sie hat gesagt, wenn ich einen haben wollte, könnten wir zusammen losgehen und einen kaufen", sagt die Hamburgerin. "Und dann war ich plötzlich draußen vor der Tür." Es war das erste Mal seit mehr als einem Jahr, dass sie sich wieder aus dem Haus getraut hat.

Ilse Waack erzählt die Geschichte am Küchentisch in ihrer Wohnung im Wohnhaus Karlshöhe des Rauhen Hauses in Hamburg-Bramfeld, in dem Menschen mit Behinderungen ambulant betreut werden. Sie ist stolz, das hört man. Stolz darauf, was sie geschafft hat. "Ich bin eine Löwin", sagt die 56-Jährige. Lacht, und zeigt auf ihre roten Haare. Sie mag Löwen, Katzen ganz allgemein. An den Wänden hängen Kalender mit Katzenfotos. Auf ihrem Bett im Zimmer nebenan liegen ganz viele aus Plüsch. "Früher hatte ich zwei, aber echte."

Früher, das war vor 14 Jahren. In einem anderen Leben. Früher endete am 28. Juni 1997.

Ein Sommertag. Ilse Waack ist müde, die Woche war anstrengend. Sie lebt allein mit dem elfjährigen Tobias, der pflegebedürftigen Mutter, dazu der Job im Drogeriemarkt. Seit Wochen schon hat sie Kopfschmerzen, ist von Arzt zu Arzt gelaufen. Ohne Erfolg. Zuhause will sie mit Tobias rausgehen, vorher nur schnell auf die Toilette. Sie kommt nicht zurück. Tobias hämmert an die Tür, stolpert ins Bad - und findet seine Mutter leblos auf dem Boden. Der Junge ruft den Rettungswagen. Krankenhaus, Intensivstation. Ilse Waack hat eine schwere Gehirnblutung, ein Aneurysma ist geplatzt. Sechs Wochen liegt sie im Koma. Als die Ärzte sie wieder zurückholen, ist die große, kräftige Frau nur noch eine Hülle.

"Ich konnte nicht schlucken, nicht essen, nichts sagen. Ich konnte gar nichts", sagt Ilse Waack. Die Ärzte gaben ihr wenig Chancen, zuviel Blut in ihr Gehirn gelaufen, hatte große Teile schwer geschädigt. "Aber Tobias war immer in meinem Kopf." Sie fing an sich zurückzukämpfen, ins Leben. Mit vielen kleinen Schritten. Irgendwann konnte sie wieder schlucken, fing an zu essen und die ersten Worte zu sprechen. "Ich wollte doch zu meinem Jungen." Aber da war keine Vergangenheit, kein Heute, kein Morgen.

Auch die Nachricht, dass er inzwischen in einem Kinderheim lebte, drang nicht zu ihr durch. Ein Jahr, nach dem sie fast in ihrem Badezimmer gestorben wäre, zog sie in die Karlshöhe, in eine Zweier-Wohngemeinschaft, ohne ihren Sohn. Sie konnte nicht mehr für ihn sorgen, jemand musste für sie sorgen. In der ambulant betreuten Einrichtung wohnen Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen, geistig Behinderte, Lernbehinderte, Autisten und Spastiker. Das Ziel: so selbstbestimmt wie möglich zu leben. Ilse Waack zählt zu denen, die eine "erworbene Hirnschädigung" haben. Folge ihres schweren Schädel-Hirn-Traumas.

Ganz viel von dem, was sie einmal war und konnte, ist einfach weg. Lesen und Schreiben zum Beispiel. Auch Sehen. Auf einem Auge ist sie komplett blind, die Sehkraft auf dem anderen Auge ist sehr eingeschränkt. Sie geht unsicher, braucht für längere Strecken einen Rollstuhl. Oft erzählt sie kurz hintereinander Sachen dreimal, weil sie sich nicht mehr daran erinnert. Und manchmal fallen ihr Worte nicht ein. "Bei mir ist alles im Kopf drin, aber es kann nicht raus", sagt sie. Anfangs habe sie sich total in sich zurückgezogen, verkrochen vor der Welt. Bis ihre Betreuerin sie mit einem Lolli rauslockte.

Das kann man sich heute kaum vorstellen, so sehr vibriert sie vor Unternehmungslust. "Ich will immer raus. Ich brauche noch Schwarzbrot", sagt sie plötzlich. "Und Nagellack." Es gibt zwar eine Haushaltshilfe, die auch für die Einkäufe zuständig ist, aber manches lässt Ilse Waack sich nicht aus der Hand nehmen. Schnell ist in ihrem Rollstuhl auf dem Weg zur Bushaltestelle. Ziel: das Einkaufszentrum Farmsen. Käse steht noch auf ihrer Liste und ein Franzbrötchen. "Ich kann das allein", sagt sie und rollt auf eine Tschibo-Filiale zu. Sie kennt sich aus im Center. Und man kennt sie. Wenn sie "Kaffee und Halb-Halb" bestellt, macht die Verkäuferin ihr erst eine Tasse Kaffee, und später einen Latte Macchiato. Ilse Waack stellt sich auf ihren Stammplatz vor dem Laden und nippt genießerisch an ihrer Tasse. "Ich weiß, was ich will und ich sage das auch. So bin ich eben."

Das war ein weiter Weg. "Damit ein Mensch wie Frau Waack selbstständig leben kann, braucht man ein ausgeklügeltes System", sagt Ulla Gawlik-Brinker. "Sonst droht die Isolation." Und das ist das genaue Gegenteil von dem, was das Rauhe Haus mit seinen Behindertenhilfeeinrichtungen will. "Unser Ziel ist es, dass Menschen, die selbstständig leben wollen, dabei zu unterstützen", sagt die Sozialpädagogin. Viereinhalb Stunden betreut sie Ilse Waack in der Woche. Das ist ganz viel Reden über alles, was so los ist in ihrem Leben. Sie erledigt Anrufe, geht mit ihr zum Arzt, hilft ihr, wenn es Probleme gibt. Auf dem Tisch in der Küche liegt ein Kalender. Alle Termine werden eingetragen. "Eine klare Wochenstruktur ist wichtig, damit Frau Waack sich orientieren kann", sagt die Betreuerin. Und immer wieder Trainieren, zum Beispiel den Weg ins Farmsener Zentrum. "Das haben wir ein Jahr geübt, bis es ganz sicher saß." Oder der Umgang mit Geld. Anfangs habe Ilse Waack alles, was sie im Portemonnaie hatte, sofort ausgegeben. Für Nippes, Süßigkeiten, den zehnten Nagellack. "Jetzt kann sie es sich einteilen", sagt Gawlik-Brinker und bescheinigt ihr "eine sehr gute Entwicklung".

Ilse Waack findet sich zurecht in ihrem Alltag. Das Wohnhaus Karlshöhe ist ihre Heimat geworden. Sie geht in die Kochgruppe unten in der Gemeinschaftsküche. Sie guckt gern "Marienhof" im Fernsehen und "Verbotene Liebe". Und sie hat gelernt ihren Namen zu schreiben. Seit neustem ist sie Vertreterin der behinderten Hausbewohner im Wohnbeirat. "Das ist meine Welt", sagt sie sie und man spürt die Kraft, mit der sie dem Leben begegnet.

Ihre Selbstständigkeit ist manchmal anstrengend - auch für die anderen. Ilse Waack braucht jemand in der Nähe, der sich auf sie einlässt und auf ihre Langsamkeit. Wenn sie ein Geschäft nach dem anderen abklappert und einfach nicht nach Hause will. Wenn sie zum zwanzigsten Mal am Tag sagt, "So bin ich nun mal." Oder wenn andere Kunden in der Schlange am Imbiss unruhig werden, weil Ilse Waack nicht mehr weiß, ob sie eine große Portion Garnelen bestellen soll oder ein mittlere. Und welche Soße sie dazu will. "Dabei nimmt sie immer das Gleiche. Sie erinnert sich aber nicht mehr, was es war", sagt Sozialarbeiterin Gawlik-Brinker. Zum Betreuungsnetz gehört auch ein gesetzlicher Betreuer, der sich um die amtlichen Sachen und alles Finanzielle kümmert. Ilse Waack bekommt eine Rente, die knapp über dem Hartz-IV-Satz liegt. Davon muss sie alle persönlichen Ausgaben bestreiten. Dazu gibt es eine Mobilitätspauschale von 100 Euro im Monat. Für den Kontakt zur Behörde ist ein Mitarbeiter des Rauhen Hauses zuständig. Einmal im halben Jahr müssen so genannte Sozial- und Verlaufsberichte geschrieben und neue Anträge für die Eingliederungshilfe gestellt werden. Ilse Waack hat Hilfebedarfsgruppe drei, auf einer Skala von eins bis fünf.

Und dann hat Ilse Waack ihre Familie - und Tobias. Er ist jetzt 26 Jahre alt, hat eine Wohnung und einen guten Job. Am Küchenschrank hat sie viele Fotos von ihm aufgehängt. "Mein Junge", sagt sie liebevoll und guckt auf die Bilder, auf denen ein schüchterner Bub wie auf einer Zeitreise zum schlaksigen Teenager wird. Aus dem neusten Foto lächelt ein Mann mit Locken gelassen in die Welt von Ilse Waack. Ohne ihn, sagt sie, hätte sie es nicht so weit geschafft. Er ist der Mittelpunkt in ihrem Leben, um ihn hat sie gekämpft. Damals, als Tobias Vater plötzlich das Sorgerecht wollte. Und mit jedem Schritt, mit dem sich ein Stück Selbstständigkeit zurückerobert hat. "Ich habe mich angestrengt. Ich wollte doch, dass ich wieder mit meinem Jungen zusammenleben kann." Der Traum blieb unerfüllt.

Trotzdem hat Ilse Waack nicht aufgegeben. Sie hat sich aus den Tiefen des Vergessens zurückgearbeitet, noch einmal angefangen, das Leben zu lernen. In ihrem Zimmer hängt ein Foto, auf dem neben Tobias eine Frau steht mit einer großen Brille und ernstem Blick. "Das bin ich, wie ich früher war." Das könnte unglücklich klingen, tut es aber nicht. "Das ist nicht mehr wichtig. Es ist vorbei." Sie weiß, dass es wieder passieren kann. Dass wieder eine Arterie in ihrem Gehirn platzen kann. "Tobias habe ich gesagt, wenn die Ärzte mich aufgeben, dann musst du ran und entscheiden", sagt Ilse Waack.

Das klingt, als sei eine schwere Last von ihr genommen. Jetzt, wo ihr Sohn erwachsen ist, ist es in Ordnung, dass er für sie verantwortlich ist. Es fühlt sich normal an.