Jakob von Uexküll über die Grenzen des Wachstums und das Umdenken unter Zeitdruck

Mit unbequemen Wahrheiten kennt sich Jakob von Uexküll, 66, bestens aus. Der Mitbegründer des Weltzukunftsrats (World Future Council), dessen Sitz seit 2007 Hamburg ist, setzt sich unermüdlich für mehr Nachhaltigkeit ein - mit vielen Initiativen, mit dem Alternativen Nobelpreis, weltweit und grundlegend. Was umdenken bedeutet und wie Hamburg nachhaltiger werden kann, erläutert er in diesem Interview.

Hamburger Abendblatt:

2005 bis 2014 ist die Uno-Dekade der Nachhaltigkeit. Ist das nur ein Denkanstoß, oder was muss in diesem Jahrzehnt erreicht werden?

Jakob von Uexküll:

Das ist nicht nur ein Denkanstoß, denn die Folgen der Nichtnachhaltigkeit werden ja täglich deutlicher, und zwar weltweit. Wir sehen, dass die großen Gletscher in Asien sehr schnell abschmelzen und dadurch die Wasserversorgung von Millionen Menschen gefährdet ist. Anderswo herrscht inzwischen ein solcher Wassermangel, dass in Australien einige kleinere Städte evakuiert wurden, andere bekommen ihr Wasser bereits in Tanklastern. Das sind nur einige Beispiele für die zunehmende Destabilisierung des Weltklimas. Sie gefährdet den Frieden, die Entwicklung und die Wirtschaft, gefährdet den Kampf gegen die Armut. Wir merken, dass die Grenzen des Wachstums, vor denen der Club of Rome vor 40 Jahren zum ersten Mal gewarnt hat, jetzt Realität werden.

Das heißt, wir haben uns mit der Umstellung auf mehr Nachhaltigkeit zu viel Zeit gelassen?

Uexküll:

Der Club beschrieb damals mehrere Szenarien des Fortgangs, und die Folgen des Szenarios "Weitermachen wie bisher" haben sich heute weitgehend bewahrheitet. Deshalb sind die Uno-Initiativen für Nachhaltigkeit nicht nur fromme Worte. Das Problem ist, dass wir noch nicht begriffen haben, wie tiefgehend die Maßnahmen sein müssen, die wir ergreifen müssen. Ein britischer Kolumnist hat vor Kurzem geschrieben, wenn es wirklich Grenzen des Wachstums gebe, dann breche der ganze Unterbau unseres politischen Systems zusammen. So lange man glaubt, dass der Kuchen immer größer wird, kann man alle Gerechtigkeitsfragen in die Zukunft verschieben, kann die Menschen vertrösten. Aber wenn er nicht mehr wächst, muss man sich den Problemen stellen.

Als Wachstumsanzeiger dient bisher das Bruttosozialprodukt eines Landes.

Uexküll:

... und das ist ein unzuverlässiger Indikator. Denn wenn man da die ökologischen Folgekosten unseres Konsums und der Ressourcenverschwendung einrechnet, fällt das Wachstum schon sehr viel geringer aus. Und man muss fragen: Bedeutet denn dieses Wachstum auch einen Zuwachs an Lebensqualität? Immer mehr Menschen, auch bei uns, merken, dass das nicht mehr der Fall ist. Wenn wir immer mehr von diesem Wachstum für Reparatur- oder Schutzmaßnahmen verwenden müssen, beispielsweise für Schutzwälle gegen steigende Fluten, dann können der Zement und die Bauarbeiten dafür nicht genutzt werden, um Wohnungen für die nächste Generation zu bauen.

Die Diskussion über die Grenzen des Wachstums findet bei uns wie in einer Parallelwelt auf alternativen Kongressen, manchmal auch auf Parteitagen statt, aber erst selten in Unternehmen oder Kommunen. Warum?

Uexküll:

Die Situation ist dabei sogar in Deutschland schon viel weiter als etwa in Großbritannien, wo ich lebe. Hier ist man noch völlig in den alten Szenarien gefangen - links gegen rechts, Markt gegen Staat. Dabei hat die Diskussion über Nachhaltigkeit eine wichtige Erziehungsfunktion, damit die Menschen überhaupt verstehen, dass der freie Markt allein nicht die nötige Wende bringen kann. Die Wende hin zu erneuerbaren Energien ist ja nur ein Teil. Wir müssen neue Anreize schaffen, das heißt unsere Produktions- und Konstruktionssysteme umbauen. Um einen ordentlichen Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung hinzubekommen, dafür ist es schon zu spät. Es wird ein sehr unordentlicher Übergang sein. Aber jedes Jahr, das wir abwarten, kostet enorme Summen, die alles noch schwieriger machen, wenn wir nicht umsteuern, bevor wir dazu gezwungen sind.

Hamburg legt zur Uno-Nachhaltigkeitsdekade jährlich einen Aktionsplan auf: "Hamburg lernt Nachhaltigkeit". Er hat zum Ziel, möglichst viele Multiplikatoren und Klimaakteure auszubilden. Aber ein zentrales Nachhaltigkeitskonzept für die Stadt gibt es noch nicht. Was müsste da drinstehen?

Uexküll:

Dazu gehört nicht nur, dass man zur Nachhaltigkeit erzieht und die richtigen Werte vermittelt. Solch ein Konzept bedeutet, dass alles zusammengedacht werden muss: Stadtplanung, Architektur, Energieversorgung, Transportwesen, Nahrungsmittelversorgung. Die Stadt muss auch neue Gefahren- und Risikohierarchien entwickeln, etwa für höhere Sturmfluten. Da hat Hamburg sicher eine Vorreiterrolle, aus der Erfahrung. Ich kenne keine Stadt, in der es so viele Institute und Labors gibt, die sich damit beschäftigen. Hamburg muss eine regenerative Stadt werden, die beweist, dass sie überdurchschnittlich intensiv nach Lösungen sucht, weil sie weiß, dass sie bei einer Erhöhung des Meeresspiegels überdurchschnittlich gefährdet ist.

Was läuft in Hamburg denn vorbildlich und was nicht?

Uexküll:

Ich finde die IBA sehr interessant, den Versuch der nachhaltigen Stadtentwicklung in Wilhelmsburg mit dem Ziel, 100 Prozent erneuerbare Energien einzusetzen. Viele Studien zeigen, dass das machbar ist. Wir können nicht immer nur vom Verzicht reden, davon, noch mehr CO2 einzusparen. Es ist identitätsbildend zu sagen: Wir haben auch positive Ziele, wir haben Werte. Denn wenn man den Menschen Nachhaltigkeit predigt, ohne dass um sie herum etwas Neues geschieht, dann werden sie entweder zynisch oder deprimiert. Ein anderes Beispiel: Die City-Maut war überall da, wo sie eingeführt wurde, ein Erfolg. Ich verstehe nicht, warum man da in Hamburg so ablehnend ist. In vielen Städten war der Einzelhandel dagegen, auch in London, wo ich lebe, aber inzwischen ist die Resonanz sehr positiv. Die Maut hat zum Beispiel zu einem Ausbau des Radwegenetzes geführt.

Das heißt, Hamburg müsste alle öffentlichen Bereich daraufhin durchforsten, welche Ziele bei Ressourcenschonung und Nachhaltigkeit nötig sind. Sie sprechen dabei von "best practice". Was heißt das?

Uexküll:

Der World Future Council wurde vom damaligen Bürgermeister Ole von Beust und von dem Unternehmer Dr. Michael Otto nach Hamburg geholt, eben weil sie wussten, dass ohne die richtigen Rahmenbedingungen "best practice", das heißt Einzellösungen, nicht ausreichen. "Best practice" heißt, Teil der Lösung und nicht Teil des Problems zu sein. Der Alternative Nobelpreis, den ich ja auch gegründet habe, tut seit Jahrzehnten nichts anderes, als solche Lösungen zu unterstützen. Der World Future Council arbeitet daran, dafür die besten Rahmenbedingungen zu schaffen, das heißt Regelwerke, Gesetze, Institutionen direkt in Zusammenarbeit mit Parlamentariern, Politik und Wirtschaft.

Aber es geht nicht schnell genug?

Uexküll:

Ich war 2007 in der neu gegründeten Hamburger Klimakommission und habe damals schon gesagt: Es reicht nicht, Pläne für das Jahr 2030 oder 2050 zu entwerfen, weil die jetzigen Entscheidungsträger dann sicher nicht mehr entscheiden werden. Mich interessieren Pläne für die unmittelbar nächsten Jahre, die entscheidend sein werden. Der britische Ökonom John Maynard Keynes hat gesagt: Das Schwierige ist nicht, neue Ideen zu entwickeln, sondern die alten Ideen zu überwinden.

Das probiert Deutschland ja gerade mit der Energiewende. Es sieht aber nicht so aus, als ginge sie konfliktfrei vonstatten.

Uexküll:

Ich glaube, der Atomausstieg ist ein sehr mutiger und richtungsweisender Schritt von der Bundesregierung. Deshalb sollten jetzt auch nicht regionale Blockaden diese Entwicklung aufhalten. Natürlich kann ich verstehen, wenn jemand sagt: Ich möchte über dem schönen Wald hier nicht die Windräder sehen. Aber die negative Einstellung vieler Deutscher gegen den Ausbau der Stromnetze ist absurd. Wir haben ein sehr gutes Gesetz zur Energieeinspeisung in Deutschland. Wir haben große Windenergiekapazitäten. Sie nützen aber nichts, wenn wir das Stromnetz nicht ausbauen können, wenn sich alle dagegen wehren. Dann werden wir keine Energiewende haben, sondern Energieengpässe und Klimakollaps.

Nachhaltigkeit heißt im Alltag auch, private Gewohnheiten zu ändern. Schalten Sie Ihren PC aus, wenn Sie aus dem Büro gehen, oder läuft er Stand-by weiter?

Uexküll:

Ich schalte ihn aus. Wie viel Unterschied das macht, hängt natürlich vom Gerät ab. Aber psychologisch ist es wichtig, Teil der Lösung zu sein. Wir leben in einem reichen Land, wir sind ein überdurchschnittlicher Teil des Problems, was den weltweiten Konsum und die Ressourcennutzung angeht. Alles, was wir in Deutschland und Nordeuropa tun, hat also eine überdurchschnittlich positive oder auch negative Wirkung in Bezug auf die globale Nachhaltigkeit. Neben den privaten Gewohnheiten müssen wir uns auch aktiv politisch um bessere Rahmenbedingungen kümmern, denn ohne die wird es nicht reichen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Produktionsprozesse in Unternehmen in Kreisläufen stattfinden, bei denen so viel wie möglich recycelt und wiederverwendet wird. Das erfordert ein Umdenken von Anfang an.