Seit 35 Jahren engagiert sich Jürgen F. Bollmann, amtierender Hamburger Bischof, in der Anti-Akw-Bewegung. Kirchenintern stand er lange am Pranger, inzwischen teilt die Nordelbische Kirche seine Position

Er hat einen. Natürlich. Irgendwo zuhause, in einer Schublade liegt der gelbe Button mit der roten Anti-Atomkraft-Sonne. "Den habe ich seit 1977", sagt Jürgen F. Bollmann, 63. "Aus der Anfangsphase der Auseinandersetzung um das Akw in Brokdorf." Der Harburger Propst und derzeit amtierende Hamburger Bischof lächelt. Es ist kein fröhliches Lächeln. Die Atomdebatte ist eins seiner Lebensthemen. Früh hat er die Gefahren und die tief greifenden Folgen für Mensch und Natur gesehen. "Es gibt ein Restrisiko, dass sehr groß ist und nicht versicherbar", sagt der Theologe. Das werde nach der Katastrophe im japanischen Atommeiler Fukushima wieder überdeutlich. "Der Mensch hat sich einer Technologie ausgeliefert, die keine Fehler zulässt. Der Mensch aber macht Fehler, und wenn er nur die Gewalt der Natur unterschätzt."

Vor kurzem auf dem Rathausmarkt hat er vor 50 000 Menschen zu einer Schweigeminute für die Opfer von Fukushima aufgerufen - als "Ausdruck einer Demut, die unsere eigene Machtlosigkeit sieht". Das war stiller Protest. "Das heißt aber nicht, dass wir den lautstarken Protest nicht brauchen." Das war ein deutlicher Aufruf. Noch dazu von einem mit Bischofwürden, der nach dem Rücktritt von Maria Jepsen die Amtsgeschäfte im Sprengel Hamburg und Lübeck führt. Ungewöhnlich auch für Bollmann, einem Kirchenmann der leisen Töne. Einem, der sich eher als Vermittler sieht. Aber es geht für ihn um etwas Existenzielles - auch aus seinem Glauben heraus. "Wir brauchen den Protest, damit die Atomenergie von der Erdoberfläche verschwindet."

Es war die Beschäftigung mit dem Magnificat, dem Lobgesang der Maria aus dem Lukas-Evangelium, die vor mehr als dreißig Jahren in Bollmanns Leben etwas Grundlegendes in Gang setzte. Dort heißt es "Er stößt die Mächtigen vom Thron." Der Theologiestudent arbeitete an seiner Examenspredigt. In Brokdorf fand die erste große Anti-Atomkraft-Demonstration statt. "Für mich war das eine Frage der Freiheit. Die Atomtechnologie nimmt uns die Freiheit, eigenverantwortlich zu entscheiden", sagt er. In seiner Predigt spielte die Atomdebatte eine entscheidende Rolle und führte ihn direkt in den aufkeimenden kirchlichen Widerstand. Mehrere junge Pastoren hatten sich 1976 in der "Hamburger Initiative kirchlicher Mitarbeiter und Gewaltfreie Aktion" zusammengeschlossen. Auch Bollmann, inzwischen Vikar in Hamburg-Eilbek, war dabei. "Es war ein Protest gegen den Tod. Es ging - und geht - um die Bewahrung der Schöpfung, um die hohen Risiken der Atomenergie." In der Kirche war das Bündnis umstritten. Viele, gerade auch die Kirchenoberen, geißelten das politische Engagement. "Doch für uns war klar, dass die Kirche Position beziehen muss."

Sie zettelten einen Stromzahlungsboykott an, in dem sie zehn Prozent der Stromrechnung auf ein Extra-Konto zur Entwicklung alternativer Energien überwiesen, waren bei den ersten Protesten in Gorleben dabei. Ihr Credo war Gewaltfreiheit. Doch als sich Ende 1977 der Tübinger Lehrer Hartmut Gründler aus Protest gegen den Atomkurs der SPD vor der Petri-Kirche verbrannte, war das ein Fanal. Ein weiteres: Im März 1979 bestätigt die Kernschmelze im US-amerikanischen Harrisburg, dass die Warnungen vor einem atomaren Inferno real sind. Einige aus der Widerstandgruppe besetzen daraufhin die Petri-Kirche, um ihren Protest deutlich zu machen. Bollmann war nicht dabei. "Ich gehörte nie zu den Mutigen. Vor großen Auseinandersetzungen habe ich mich immer gedrückt", sagt er. Der junge Geistliche, inzwischen in der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit tätig, stand vor der Tür und vermittelte. Auf das Dach seines VW-Käfers hatte er eine Anti-Akw-Sonne gemalt. 17 Tage dauerte der Ausnahmezustand, nach dem Ende erteilten die Kirchenoberen zehn Pastoren einen Verweis, im Kirchendeutsch Amtszuchtverfahren.

Heute ist kaum vorstellbar, wie die Aktiven damals auch kirchenintern am Pranger standen. Seitdem wurde viel diskutiert in der Nordelbischen Kirche. Bollmann war einer von denen, die nicht locker ließen. Der GAU im ukrainischen Kernkraftwerk Tschernobyl im April 1986 war der nächste große Einschnitt. "Da wurde die Bedrohung ganz real." Bollmann und seine Frau Jutta verboten ihrem Sohn Jonas in Harburg in der Sandkiste zu spielen, der jüngere Jakob bekam Trockenmilch. In diesem Herbst forderte die nordelbische Synode als bundesweit erste den Atom-Ausstieg. Eine Grundsatzentscheidung. Ende vergangenen Jahres votierte sie gegen die Laufzeitenverlängerung für alte Atomkraftwerke. Genugtuung? Bollmann schüttelt den Kopf. "Ich bin stolz auf meine Kirche, weil sie eine klare Position hat", sagt der Theologe.

Und jetzt Fukushima. Ungeduldig kann Bollmann, der sonst so bedächtige, da werden. "Meine Güte, braucht es so lange, bis andere das auch begreifen", entfährt es ihm, der als äußeres Bekenntnis zu seiner aktiven politischen Zeit bis heute einen dichten Vollbart trägt. Die Argumente seien die gleichen wie vor 35 Jahren. Täglich ist er in Kontakt mit einem Freund in Japan. "Wohlstand und Glück sind nicht zwangsläufig das Ergebnis einer hochtechnisierten Welt. Die Ereignisse in Fukushima lehren uns, dass sie sogar das Unglück bringen können." Trotzdem mag er nicht an einen Wendepunkt glauben, egal welche Versprechungen Politiker jetzt machen. "Viele hoffen das. Aber wir brauchen einen langen Atem." Aufgabe der Kirche sei es, die Menschen zu ermutigen, ihrer Haltung treu zu bleiben. Sich keine Angst machen zu lassen vor einer Industrielobby, die behauptet der Strom werde knapp. Sich nicht beruhigen zu lassen, deutsche Atomkraftwerke seien sicherer als andere. "Und es geht auch darum, die Erinnerung wach zu halten." Deshalb fordert er, den 11. März zu einem Gedenktag für die Opfer in Japan zu machen - in Demut vor der Schöpfung. Deshalb wird er auch wieder vor Demonstranten sprechen. Am Ostermontag, einen Tag vor dem 25. Jahrestag des GAUs in Tschernobyl, sind an zwölf deutschen Atomkraftwerken Proteste geplant. Bollmann ist nach Brunsbüttel eingeladen. Vorher will er seinen "Anti-Akw-Button" suchen.