Das Künstlerduo Gilbert & George präsentiert die Werkgruppe “Jack Freak Pictures“

Wie lebt es sich da unten "zwischen den Mülleimern"? Wie verwandelt sich Mondlicht in mich? Und warum schlägt am "Himmelsäquator" das Negative um ins Positive? Die Antworten auf diese Bildtitel muss man zwar selbst finden, aber die Verführungen dahin sind zum Greifen nah. Gespenstisch nah sogar, als fühlte man bereits die kalte Geisterhand auf der Schulter oder das Fegefeuer seinen Allerwertesten ansengen. Es ist eine verzaubert-monströse Bilderwelt, mit der das britisch-italienische Künstlerduo Gilbert & George in die Deichtorhallen einzieht. Ihre knapp 120 Werke entstammen der jüngsten Werkgruppe der exzentrischen Weltstars, den "Jack Freak Pictures".

Ihren Betrachtern gewähren sie Einlass in ein Hi-Tec-Pandämonium im Kaleidoskop-Format, in dem Missbildungen in die Höhe schießen, Augenköpfe starren, Kriegstänze einsetzen, Monster blecken, Dämonen schielen, Rüstungen glänzen und sich im Himmel ein Teppich aus tausendundeiner feinster Verästelungen webt - als wär's reinste Brüsseler Spitze. Nicht zum ersten Mal verblüffen Gilbert & George mit solch ungeahnten Ausflügen in ihr sich kontinuierlich erweiterndes Reich der Bilder. Dabei hatte vor mehr als vierzig Jahren alles im Kleinen und geradezu bildlos angefangen. Die beiden begannen als "baby artists", wie sie heute zu sagen pflegen.

Gilbert, der italienische Student der Bildhauerei, traf auf George, den englischen Studenten der Bildhauerei, in London. Zuerst gab's ein wenig Kooperation. Aber schon kurz darauf war die Zeit der Experimente vorbei. Fortan fanden sich die beiden als "Singende Skulptur" vereint. Zwei Männer ergaben zusammen eine lebende Skulptur. Auf einem Tisch als Podest intonierten sie über Stunden und in unermüdlicher Wiederholung einen alten Gassenhauer, ihre Künstler-Botschaft vom Leben als Obdachlose unter den Brücken. Die seelische, geistige und emotionale Entwurzelung des modernen Menschen ist bis heute ihr großes Thema und ihre Herausforderung. In schwiegermütterfreundliche Anzüge gekleidet, mit Frisuren frei nach dem Königsporträt auf einer Münze geschnitten und fern jeglicher Outsider-Attitüde hegten sie allein den Wunsch nach der "normality of tomorrow" und einer "Kunst für alle".

Rückblickend bedeutete das: aus einer bilderlosen eine bilderfüllte, einer eigenschaftslosen eine eigenschaftsreiche, einer Werte negierenden eine Werte bekennende Welt und aus dem viel zitierten "Ende der Kunst" einen Neubeginn des Lebens zu schaffen. Mit populärer Volkskunst hat das wenig gemein, viel aber mit einer Kunst für Individuen mit Mut zum Abwurf alten Ballasts. Knapp ein Jahrzehnt dauerte es, bis Gilbert & George ihre bis heute gültige Bildform fanden, sich einer größeren Farbpalette bedienten, vor allem aber jene oft niederen, unteren und tabuisierten Lebenskräfte erkannten, aus denen sie heute ihre Kunst schöpfen.

Danach explodierte ihr Werk förmlich. Ihre Kunst drang ein in neue Regionen des Lebens, in die Gefilde des Sex, des Todes, der Werte bis hin zu Herkunft und Natur des Menschen. Kaum griffen sie dabei auf Vergangenes zurück oder übten sich in Gesellschafts- und Kunstreflexion. Mit wenigen Motiven schufen sie eine komplexe, in ihrem Kern heidnische und modern-urbane Welt. Auch in den "Jack Freak Pictures" bedienen sich Gilbert & George eines überschaubaren Motivrepertoires. Neben ihrem eigenen Konterfei, den vielfältigen, monströsen Neubildungen und -formierungen ihrer Körper und Körperteile liefern Medaillen, Abzeichen, Bäume, Stadtpläne, im Besonderen aber der Union Jack das Basismaterial für ihre Kompositionen. Sowohl Doppelkreuz als auch Farbgebung der britischen Flagge kehren in etlichen Bildern wieder.

Sie liefern den Rapport der Künstleranzüge, wölben sich zu metallischen Rüstungen oder legen sich als Straßenbelag auf den Grund der Stadt. Als würden die Künstler mit solch inflationärem Umgang nationalen Bildguts das weit verbreitete Vorurteil nähren, sie seien Vorzeigekünstler des typisch Britischen par excellence. Doch scheint eher das Gegenteil der Fall: Gilbert & George bedienen sich britischer Symbole, um damit modellhaft ein eigenes Identitätsgefüge zu errichten.

Der Union Jack mit der Überlagerung eines Schräg- und eines Georgskreuzes liefert dafür das ideale Symbol. Nicht nur wie das Künstlerpaar ist auch er Inbegriff einer Personalunion. Darüber hinaus laufen in seinen schrägen wie lotrechten Achsen die Linien aller Lebenstiefen und -höhen zusammen. Hinzu kommt mit dem oft im Bildtitel auftauchenden Wort "Jack" eine Art Jedermann ins Spiel, das im Englischen eine Vielzahl an Bedeutungen kennt: von der Spielkarte Bube bis zum gleichnamigen Computerprogramm zur Modellierung von Menschen.

Schließlich ist da noch der Freak, die Missgeburt, der Sonderling oder der Begeisterte, wie sie mehrfach im Bilde auftauchen. Alle drei erzeugen den Bedeutungsnährboden der Bilder, den nationalen Underground mit Monstern, Missgeburten, aber auch feingliedrigen Nachtgespinsten. Als gelte es, mit einer derartig elaborierten Armada des Ungeheuerlichen und sonnenabgewandten Wirkens sich den Tod, die Finsternis und den Feind vom Leibe zu halten.

Gilbert & George: Jack Freak Pictures 25.2. bis 22.5., Deichtorhallen, Deichtorstraße 1-2, Di-So 11.00-18.00, jeden 1. Do. im Monat 11.00-21.00