Der dänische Allround-Künstler Poul Gernes scherte sich nicht um den Kunstbetrieb - eine umfassende Retrospektive

"Seit einigen Jahren verlange ich von meiner Kunst, meinen Mitmenschen Freude zu bereiten und nicht zu einem ästhetischen Egotrip zu werden", sagte Poul Gernes (1925-1996) in einem Interview 1983. Der Kunstbetrieb mit seinem Motto "Aufrütteln, Irritieren, Provozieren" interessierte ihn nicht. Er stellte seine Kunst mitten ins Leben.

"Ausgelassen, anarchisch, ausschweifend, fröhlich, funky, psychedelisch" - so beschreibt Dirk Luckow die Arbeiten des dänischen Künstlers. Der Direktor der Deichtorhallen hat eine Retrospektive zusammengestellt und macht die Kunst von Poul Gernes erstmals einem internationalen Publikum zugänglich. Obwohl der Künstler 1988 Dänemark bei der Biennale in Venedig vertreten hat und Arbeiten von ihm 2007 auf der Documenta 12 gezeigt wurden, ist er außerhalb Skandinaviens kaum bekannt.

Unter dem Titel "Poul Gernes - Retrospektive" gibt das Haus mit mehr als 400 Bildern, Zeichnungen, Skulpturen, Filmen und Gebrauchsobjekten einen umfassenden Einblick in das Werk eines Künstlers, das sich jeder Kategorisierung entzieht. Frühe Arbeiten zeigen akribische Zeichnungen und Landschaftbilder, später folgen lockere Fleckenbilder und strenge Liniengefüge. Schließlich baut Poul Gernes Stühle und Lampen. Im Jahr 1961 gründet er zusammen mit dem Kunsthistoriker Troels Andersen in Kopenhagen die "Experimental Art School".

Schüler (darunter Per Kirkeby) und Lehrer arbeiten gemeinsam an Bildern und Skulpturen, veranstalten Fluxus-Aktionen und Performances. In dieser schöpferischen Zeit findet er zu den Buchstaben-, Punkt-, Streifen- und Zielscheibenbildern, die den Großteil der Schau in den Deichtorhallen bestreiten. Poul Gernes malte sie als acht- bis 50-teilige Serien mit Lackfarbe aus dem Baumarkt auf einfache Hartfaserplatten. Dennoch ist das meist lichte Farbspektrum grandios. In einem Dokumentarfilm aus dem Jahr 1994 sagt er: "Ich arbeite absichtlich mit spektralen Farben, weil dies die Farben sind, die auf uns Menschen einen Effekt haben. Es sind diejenigen, die das Leben strahlend machen können."

Dem Künstler geht es um die Wirksamkeit seiner Arbeiten auf das gesellschaftliche Leben. Gelegenheit, unmittelbar auf den öffentlichen Raum einzuwirken, bekommt er 1968 mit dem Auftrag zur Ausgestaltung des Foyers eines Krankenhauses. In den kommenden acht Jahren bemalt Gernes alle 25 Stockwerke des Neubaus in Herlev nahe Kopenhagen. Nicht nur Wände, auch Türen, Stühle, Aufzüge - einfach alles bezieht er in das Gesamtkunstwerk ein.

In der Folge gestaltet Gernes 150 öffentliche und private Gebäude in Dänemark. Schulen, Kinos, Wohnheime, Bäckereien, Gefängnisse. Auch deprimierendste Architektur wird unter seinen Händen lebendig und energievoll. Ein tristes Studentenwohnheim hat nach dem farbenfrohen Eingriff nie mehr Vandalismus gesehen.

Ende der 70er-Jahre geht der Künstler zu einer figürlich-ornamentalen Darstellung über. Ranken und abstrahierte Blüten zieren Treppenaufgänge, Wände und Theatervorhänge. Zu einer Zeit, als an den Kunsthochschulen Dekoration als Verbrechen galt. Gernes will, dass seine Kunst den Menschen gefällt, nicht dem Kunstmarkt. Und sie soll heilen. Das wohl rührendste Beispiel dafür ist die Bemalung einer Gefängnismauer von innen mit pastellfarbenen Blüten und Herzen.

Poul Gernes - Retrospektive bis 16.1.2011, Deichtorhallen, Deichtorstraße 1-2, Di-So 11.00-18.00, Do bis 21.00, Katalog 48 Euro