Die Schau “Marc Chagall. Lebenslinien“ präsentiert den Maler von einer sehr persönlichen Seite

In Marc Chagalls Bilderwelt verbinden sich Erinnerungen an das jüdisch geprägte Milieu seiner Kindheit mit Anklängen seines künstlerischen Aufbruchs in die Moderne, Glaubenstraditionen gehen mit einem heiteren Bruch mit alten Überlieferungen einher. Sie ist ebenso von dem Wunsch nach Harmonie wie von den bitteren Erfahrungen des Holocausts gezeichnet. Unter dem Motto "Lebenslinien" geht das Bucerius Kunst Forum den persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen im Leben des gebürtigen Russen und bekennenden Franzosen nach.

Seine mit eigenen Radierungen versehene Autobiografie "Mein Leben" spielt dabei eine zentrale Rolle. Erstmals wird sie in der Hamburger Ausstellung unmittelbar mit rund 150 Zeichnungen, Druckgrafik und Gemälden in Beziehung gesetzt. Der Großteil stammt aus der Chagall-Sammlung des Israel Museums in Jerusalem. Hinzu kommen Leihgaben aus deutschen und internationalen Sammlungen, unter anderem aus dem Kunstmuseum Basel, dem Centre Pompidou in Paris und der Staatlichen Tretjakow-Galerie in Moskau. Schon 1922 wurden 20 Radierungen der Biografie vom Berliner Verleger Paul Cassirer in einer Mappe publiziert. Die Herausgabe des Textes aber verzögerte sich bis 1931. Mit 35 Jahren resümiert Marc Chagall bereits sein Leben, seine künstlerische Karriere und seine große Liebe zu Bella, seiner Muse, Ehefrau und Mutter der gemeinsamen Tochter Ida. "Ich habe", erzählt er über die gemalte Welt seiner jungen Jahre "mein geliebtes Russland, meine Heimatstadt Witebsk, das jüdische Viertel, in dem ich aufwuchs, so gemalt, wie ich es als Kind gesehen habe." Und er tut dies nicht allein in seiner Autobiografie. Diese Welt mit ihren zum Teil anekdotischen Begebenheiten, wenn etwa der Großvater auf dem Dach des Hauses Mohrrüben verspeist, taucht zeit seines Lebens in zahlreichen Werken auf. Vor allem auch in den Erinnerungsbüchern seiner Frau, "Erste Begegnung" und "Brennende Lichter", die von Chagall illustriert werden.

Tragisch dabei: In die Zeit der Entwürfe fällt nicht nur ihr Tod, sondern auch der Einmarsch der Nazis in Witebsk 1941. Bei der Befreiung waren knapp 100 Menschen und 15 Gebäude dieser einst beträchtlich großen Stadt übrig geblieben, des geliebten Schtetls von Marc und Bella Chagall.

So werden die Erinnerungen an Alltagssituationen, an Geburt oder Geburtstag, an jüdische Gebräuche und Festtage oder an ganze Episoden wie "Die Perlenkette" auch zu Dokumenten einer verlorenen Zeit. Gleichzeitig spiegeln sie, etwa im Bild der aller Schwerkraft entbundenen Schwebenden, der "Luftmenschen" des wandernden Juden, immer wiederkehrende Motive in der Kunst von Marc Chagall wider. "Hängen wir nicht tatsächlich in der Luft? Leiden wir nicht an einer einzigen Krankheit: der Sucht nach Stabilität?"

Ein weiterer Teil der Ausstellung konzentriert sich auf das Selbstbildnis des Künstlers. Mit einem frühen Selbstporträt, angelehnt an Vorbilder Rembrandts, kündigt er selbstbewusst seine weitere Karriere an. Darin artikuliert sich ebenso sein Bestreben, aus der bilderarmen Tradition seines Glaubens in die üppige Bilderwelt des Westens einzutauchen. Wenn schon, so fragt Chagall, das jüdische Volk Christus, Christentum und Sozialismus hervorgebracht habe, warum sollte es "der Welt nicht auch eine spezifisch jüdische Kunst schenken?".

Nicht zuletzt unter dem Eindruck der in Paris erfahrenen Avantgarde malt sich Chagall in verrückter Pose, mit Kopf unterm Arm oder bekrönt mit Haus oder Automobil. Später intensivieren sich seine Selbstbildnisse, gefördert durch Erfahrungen und die Zäsur durch das Nazi-Regime. In "Selbstbildnis mit Pendeluhr" (1947) lehnt sich der Maler an ein mythisch rot leuchtendes Pferd, das ihm Kraft und Schutz zugleich verleiht. Ihm gegenüber der gekreuzigte und tote Jesus, den ein um die Hüfte gelegtes Gebetstuch als Juden ausweist.

Um 1930 begann Chagall, angeregt durch den Pariser Verleger Ambroise Vollard, mit Illustrationen zur Bibel. Sie sollten bis in die 70er-Jahre dauern. Auch hier bilden Kindheitserinnerungen und Eindrücke seiner Reise nach Palästina den motivischen Hintergrund für Zeichnungen und Gemälde. Mehrfach überträgt Chagall Gesichter aus dem jüdischen Getto, palästinensische Landschaft oder orientalische Gewänder wie etwa in "Davids Trauerlied" (1956) in seine Bibel-Bilder. Ein umfangreiches Begleitprogramm mit Konzerten, Vorträgen und Lesungen ergänzt die Ausstellung.

Marc Chagall. Lebenslinien bis 16.1.2011, Bucerius Kunst Forum, täglich 11.00-19.00, Do bis 21.00