Viele über 60-Jährige wollen aktiv sein: Das Projekt “Leben im Alter“ in Nienstedten trifft den Nerv der jungen Alten

Bis vor wenigen Jahren war Lutz Funke noch Jurist in leitender Funktion. Er ist ein drahtiger Typ, fit - geistig wie körperlich. Der 67-Jährige wohnt in den Elbvororten, mag Kunst und Kultur. Funke ist ein ganz typischer Vertreter der Generation der "jungen Alten". Das sind die über 60-Jährigen, die sehr aktiv sind, die ihre Erfahrungen gerne weitergeben oder einfach nur etwas Gutes für sich tun wollen.

"Die neuen Senioren haben ein unglaubliches Potenzial, das Kirchengemeinden für sich nutzen sollten. Sie passen überhaupt nicht in das Bild vom hilfsbedürftigen Alten, das noch viele Pastoren im Kopf haben. Viele Ältere haben keine Lust mehr auf den klassischen Seniorennachmittag, die wollen mitreden und selbst gestalten", sagt Ute Zeißler. Die Diakonin und Sozialpädagogin hat deswegen vor acht Jahren das regionale Projekt "Leben im Alter" gegründet. Gemeinsam mit den Gemeinden Nienstedten, St. Simeon, Bugenhagen-Groß Flottbek und drei örtlichen Diakonieeinrichtungen bietet Zeißler vielfältige Projekte für Senioren an.

So gibt es ein Redaktionsteam, das Erinnerungsbücher erstellt, eine Gruppe namens 60 +, die Kulturausflüge organisiert, Jung-Alt-Konfirmandenprojekte oder auch ein Lotsenbüro, das Angehörige von Demenzkranken berät. Etwa 80 Senioren engagieren sich ehrenamtlich in all diesen Projekten. Eine stattliche Zahl, doch die ursprüngliche Idee, dass sie die Hauptamtlichen entlasten, hat sich als Trugschluss erwiesen. "Die heutigen Senioren geben sich nicht mehr auf für die Ehrenämter, sie haben klare Zeitvorstellungen. Sie wollen eine Begleitung und brauchen eine verlässliche Ansprechpartnerin wie mich, die einen Rahmen bietet", sagt Zeißler, die ein Büro in Nienstedten hat und dort auf einer halben Stelle "Leben im Alter" betreut. Dass das teuer ist, gibt sie zu, "aber es zahlt sich aus". Auch angesichts der demografischen Entwicklung, wenn es künftig immer mehr Senioren gibt. Denn das anspruchvolle Programm zieht auch all jene älteren Menschen aus der ganzen Region an, die sonst wenig mit Kirche zu tun haben.

So jemanden wie Lutz Funke, der zwar Kirchenmitglied ist, aber für den der Glauben nur sekundär ist. Als der Pensionär jedoch von der Männerhandwerkgruppe Holzwürmer hörte, war er sofort mit dabei. Einmal wöchentlich trifft er sich nun mit 15 anderen Rentnern in einer Werkstatt in Iserbrook. "Ich hatte in meinem Job nur wenig Zeit für soziale Kontakte, die fehlten mir nach der Pensionierung. Ich war etwas einsam. Deswegen finde ich es jetzt schön, etwas gesellig zu sein", sagt Funke. Die Gruppe verkauft ihre Holzarbeiten auf Kirchenbasaren, erstellt Spielzeug für Kindergärten oder übernimmt kleine Reparaturen. "Kirche ist sonst so theoretisch, hier ist sie ganz praktisch. Und auch mal männerorientiert." Damit spricht er einen wunden Punkt bei der Seniorenarbeit an: Männer sind schwierig zu aktivieren, 80 Prozent der Ehrenamtlichen sind Frauen.

So wie Erika Knappe, 74, die früher nur selten in die Kirche ging, aber durch die Demenz ihres Mannes in Kontakt mit dem Lotsenbüro kam. "Ich war auf der Suche nach Hilfe und so dankbar, wie viel Unterstützung ich durch die Berater bekam. Hier fand ich einen Halt, den ich in einer Behörde nie bekommen hätte". Seit dem Tod ihres Mannes ist sie nun selber Beraterin. ",Leben im Alter' hat mich der Kirche auf alle Fälle näher gebracht", sagt sie.

Inzwischen ist die Seniorenarbeit neben der Jugendarbeit in der Gemeinde Nienstedten ein deutlicher Schwerpunkt. Die wunderschöne barocke Kirche von 1751 ist die Hochzeitskirche des Hamburger Westens, die meisten Paare kommen von außerhalb. Knapp ein Drittel der 4400 Gemeindemitglieder ist über 60 Jahre alt.

Wer in Nienstedten wohnt, ist meistens gut situiert, gebildet und sehr anspruchsvoll. Gut für das Projekt "Leben im Alter", schwieriger für Pastor Ulrich Billet, der sich 2001 nach etlichen Jahren in der Diaspora Mecklenburg-Vorpommern ganz schön umstellen musste. Er ist für die eher klassische Seniorenarbeit zuständig, wie Hausbesuche oder Seniorenkreise - das müsse auch sein, meint Billet. "Aber in anderen Gemeinden reicht oft eine Andacht, etwas Essen und danach ein Klönschnack. Das wäre hier für viele ein Grund, nicht zu kommen", sagt der 49-Jährige. Hier in Nienstedten suche man weniger die Gemeinschaft, was ja eigentlich urchristlich sei, "sondern hier wollen die Menschen etwas für sich mitnehmen. Ein spannendes Thema, ein bekannter Referent sind wichtiger", sagt Billet und man merkt ihm an, dass das manchmal ganz schön anstrengend ist. Er organisiert die wöchentlichen Gemeindenachmittage, die gut besucht sind, weil er und andere anspruchsvolle Vorträge halten oder interessante Gäste einladen. Auch zu den Gottesdiensten kommen fast immer 80 bis 100 Leute in die Fachwerkkirche an der Elbe - das ist überdurchschnittlich. Aber Nienstedten hat eben noch Dorfcharakter und da geht es auch ums Sehen und Gesehenwerden. "Äußeres spielt hier schon eine große Rolle - und Perfektion", sagt er lächelnd. Wenn es allerdings darum gehe, etwas Inneres von sich preiszugeben, über den eigenen Glauben zu sprechen oder gar einen Bibeltext vorzulesen, dann würden vor allem die Älteren hier zurückschrecken. "Das finde ich sehr schade", sagt Billet.

Dennoch: Gutes tun hat in Nienstedten auch eine Tradition. Neben Spendenaktionen gibt es seit mehr als 20 Jahren einen Besuchsdienst, den Billet organisiert. Das sind derzeit 16 Frauen und Männer zwischen 50 und 75 Jahren, die einsame, alte Menschen zu Hause oder in Pflegeeinrichtungen besuchen. So kümmert sich zum Beispiel Verena Hüser, 54, seit eineinhalb Jahren um Marie-Luise Teichler, 90, geht mit ihr in die Stadt oder in Cafés. "Diese Bekanntschaft ist für uns beide ein Geschenk", sagt Rechtsanwältin Hüser. Marie-Luise Teichler nimmt zudem Angebote der Nienstedter Gruppe 60+ wahr, die Besuche ins Museum oder auch kurze Reisen organisiert. Denn nur Kaffee und Klönen reicht auch dieser Nienstedterin als Seniorenprogramm nicht aus.