Das Erntedankfest ist mehr als nur eine Ode an das Leben

Erntedank ist ein Fest. In Dithmarschen, woher ich stamme, konnte man dieses Fest hingebungsvoll feiern. Selbst wenn die Ernte verhagelt war. Schon ab Mitte September haben Landjugend und Landfrauen Erntekronen und Ährenkränze geflochten, später dann wurden die Tanzdielen gefegt, die Tische und Altäre mit Früchten des Feldes geschmückt - herrlich sinnlich und üppig sollte das Ganze werden. Farbenfroh und fröhlich.

Doch bei aller Ausgelassenheit verlor sich nie die Nachdenklichkeit. Woher auch sonst sollte der Dank kommen? Wer täglich am Wasser und auf schwerem Boden arbeitet, erlebt hautnah, wie angewiesen der Mensch in seiner gesamten Existenz ist. Angewiesen auf den, der es wachsen lässt und gedeihen, der das Leben trotz Sturm und Flut erhält. Und so war die Kirche am Erntedanktag bis auf den letzten Platz besetzt. "Wi seggt di Dank, leeve Vadder", erklang es von den gestandenen Dithmarschern stets mit tief empfundener Demut.

Danken beginnt mit Nachdenken, mit dem Erinnern. Das Gegenteil stimmt auch: "Undankbarkeit beginnt mit dem Vergessen", sagte der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer. "Aus dem Vergessen folgt Gleichgültigkeit, aus der Gleichgültigkeit Unzufriedenheit, aus der Unzufriedenheit Verzweiflung, aus der Verzweiflung der Fluch." Weil Erntedank aus dem Nachdenken über das Leben erwächst, ist es auch kein "Alles ist wunderbar"-Fest. Wir wissen um das Elend in der Welt. Wir wissen um die Millionen Menschen auf dieser Welt, die nicht genug zum Leben haben. Wir wissen: Das Leben ist bedroht. Nichts ist selbstverständlich. Die furchtbaren Bilder in Pakistan machen dies nur allzu bewusst. Dennoch: Erntedank ist ein Fest und keine Bußübung. Es würdigt das Leben und die Freude daran. Selbst inmitten bitterer Realität. Ich habe niemals empfunden, dass das Leid bagatellisiert wird oder gar übersehen. Vielmehr geschieht mit Erntedank ein heilsamer Blickwechsel auf die Gesamtheit des Lebens, auf die Fülle, nicht auf den Mangel. Nicht die Sorge gibt den Ton an, sondern der Dank, nicht die Katastrophe steht im Zentrum, sondern die Bewahrung.

Die Empfindung, bewahrt worden zu sein, Leben und Zukunft geschenkt zu bekommen, erreicht uns ganz tief in der Seele. Dankbarkeit kann man nicht herbeireden und einfordern. Sie ereignet sich im Schweigen und Lachen, im Gebet und in der Liebe. Es ist die Erfahrung tiefsten Vertrauens darin, dass unser Leben gesegnet ist und so in Liebe zu Ende gehen wird, wie es aus lauter Liebe in die Welt hineingeboren wurde. Dieses Gottvertrauen macht reicher als alles Geld, sagt Jesus. Es ist ein Reichtum an innerer Kraft, klarer Sicht, gütiger Großzügigkeit. Und es ist gut, einen Ort zu haben, sich dieses Reichtums bewusst zu werden. Am Erntedankfest zum Beispiel. In einer der vielen Kirchen Hamburgs, in denen Blumen und Brot und die mit Erntegaben geschmückten Altäre an den Reichtum des Lebens erinnern - und zur Nachdenklichkeit ermutigen. Wer dankt, denkt. Auch über sich selbst hinaus. Wer dankt, wendet sich denen zu, die im Elend leben - nicht nur in der weiten, auch in der nahen Welt. Brich mit dem Hungrigen dein Brot, heißt es deshalb im Erntedankgottesdienst, und du wirst sein wie ein bewässerter Garten.

Es soll niemals aufhören Saat und Ernte - dieser Segen Gottes, zugesprochen nach der großen Sintflut, steht in den ersten Kapiteln der Bibel. Schon immer gehörte es zu menschlicher Kultur und Religion, rituell deutlich zu machen, dass Nahrung und Lebenserhalt nicht allein von menschlicher Kraft abhängig sind. Im Christentum gab es trotzdem erst ab dem 4. Jahrhundert ein Erntefest. Zu sehr hatte die junge Kirche zunächst die überlieferten Erntefeiern gefürchtet, die oft mit der ekstatischen Verehrung von Fruchtbarkeitsgöttern einhergingen. Als das Christentum Staatsreligion wurde, legten die Christen das Erntedankfest auf den Tag des Erzengels Michael, den 29. September. Später dann kam es zu der bis heute auch in der evangelischen Kirche gültigen Praxis, das Erntedankfest am Sonntag nach Michaelis zu feiern.

Dieses Jahr fällt Erntedank auf den 3. Oktober - den Tag der Deutschen Einheit. Auch dies ein Tag der Dankbarkeit. Denn trotz aller menschlichen Verdienste - der Demonstranten in Leipzig, all der couragierten Ostdeutschen und Politiker, die zur rechten Zeit das Rechte taten - ist die Wiedervereinigung vor allem eins: ein Geschenk. Nicht zufällig sagen die meisten bis heute, wenn sie an die friedliche Revolution vor zwei Jahrzehnten denken: Gott sei Dank!