Im Herbst beginnt für die Winzer der kitzeligste Teil ihres Jahres: Die Ernte

Im Süden Europas ist sie im vollen Gange, bei uns steht sie vor der Tür: die Weinlese, der Höhepunkt eines jeden Jahres für den Winzer. Hier entscheidet sich, ob er Geld verdient oder doch bis zum nächsten Jahr warten muss, um die zerfallene Mauer am Weinberg instand zu setzen. Pokert er, spielt er auf Zeit, um reifere Früchte zu ernten, kann morgen der Regen kommen und mit ihm die Pilze. Dann heißt es, sich sputen und auf den mechanischen Vollernter setzen. Und auch der gepflegte Weintrinker oder der Händler beobachtet zur Lesezeit den internationalen Wetterbericht. Schüttet es im Burgund, müssen schnell noch einige Kisten vom letzten Jahrgang ergattert werden. Freilich wissen wir: Entscheidend für die Qualität der Trauben sind vor allem die klimatischen Bedingungen zwischen Juli und September; in dieser Reifephase sammeln sich beachtliche Zuckermengen in den Beeren an, gleichzeitig vermindert sich die Konzentration der Säuren. Regnet es in dieser Zeit häufig oder kommt es, wie im Jahr 2003, zu einer längeren Trockenperiode, spielt der Bodentyp des Weinbergs eine entscheidende Rolle. Er reguliert die Wasserversorgung. Kreide etwa kann sehr viel Wasser speichern, Schiefer dagegen Wärme. Ein ideales Terroir sollte also wasserdurchlässig sein, was bei lockeren oder steinigen Böden eher der Fall ist als bei jenen aus Lehm oder Ton. Für die meisten deutschen Weinanbaugebiete heißt es wie immer, dass man auf das richtige Wetter hoffen muss - aber diesmal richtig, denn der allgemeine Winzertenor heißt derzeit: "Regen haben die Reben schon genügend abbekommen, für die Frucht wären jetzt ein paar Tage intensiver Sonnenschein sehr nützlich."

Es geht also um die Frucht: "Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater ist der Winzer", sprach Jesu zu seinen Jüngern (Johannes 15,1-8) und fügte hinzu: "Eine jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, wird er wegnehmen; und eine jede, die Frucht bringt, wird er reinigen, dass sie mehr Frucht bringe."

Daran hat sich bis heute im Prinzip nicht viel geändert. Alle Winzer dieser Welt wissen, dass Finesse und typischer Charakter eines guten oder gar exzellenten Weines in erster Linie auf die Qualität der Trauben zurückzuführen ist. Die Frucht muss stimmen, und der Gedanke, dass große Weine zu 90 Prozent im Weingarten entstehen, ist jahrhundertealt und immer noch stimmig. Gute Früchte, Klima hin und Wetterbericht her, lassen sich nur ernten, wenn im Verlauf des Jahres die Arbeiten im Weinberg ordentlich abgewickelt wurden. Mit dem Rebschnitt, durchgeführt in unserer nördlichen Hemisphäre von Dezember bis März, soll die Anzahl der Triebe verringert werden; so legt der Winzer frühzeitig fest, wie viele Knospen an der Pflanze verbleiben, was wiederum entscheidend Quantität und Qualität der Ernte beeinflusst. Vor allem in den nördlichen Weinanbauregionen ist der Rebschnitt bei kalten Temperaturen eine äußerst unangenehme Arbeit, in einer Steillage sowieso; später stehen im Mittelpunkt das Bearbeiten der Böden, der Kampf gegen Parasiten, das Zurückschneiden der Triebe, die Laubarbeit, um den Trauben mehr oder in heißen Jahren halt weniger Sonnenlicht zukommen zu lassen - all diese Maßnahmen entscheiden mit über die Qualität, die der Winzer während der Lese einfährt.

Indikator für den Lesebeginn ist der Reifezustand der Trauben

Während die Weinbauern der Antike und des Mittelalters das Aussehen der Beeren abschätzten, um sie dann zu probieren, geben heutzutage Analysen über chemische Eigenschaften Auskunft, gleichzeitig wiegt die exakte Messung des Zuckergehalts den Winzer in Sicherheit. Häufig handelt es sich dabei nur um eine vermeintliche Sicherheit. Inzwischen hat sich herumgesprochen, dass die so genannten Öchslegrade - sie vermitteln den Zucker- sowie den zu erwartenden Alkoholgehalt - alleine auch nicht das Wahre sind; und so kehren viele Winzer zu den Methoden ihrer antiken Kollegen zurück. Bestimmt wird der Beginn der Weinlese durch das ständige Probieren der Früchte, bis man sagt: "Jetzt kann die Arbeit richtig losgehen." Aber Reife ist nicht gleich Reife: In warmen Regionen wie etwa in Südfrankreich würde das völlige Ausreifen der Frucht zu schweren, nicht unbedingt die Trinkfreude fördernden Weinen führen; in kühlen Regionen wie etwa bei uns in Deutschland dagegen benötigt man die volle Frucht, wären die Weine doch sonst eher hart und grün.

Natürlich ist die Bekanntgabe des Lesebeginns in vielen Regionen Anlass, touristische Veranstaltungen zu organisieren. Wir alle kennen die Bilder, in denen Lesehelfer und -helferinnen, manche mit Körben auf den Köpfen und fröhlicher Mimik im Gesicht, in hügeligem Gelände auf kurvenreicher Straße singend Richtung Weinberg marschieren, gerne begleitet auch vom Musikantenstadl.

Nun, der fröhliche Weinberg ist eine folkloristische Imagination des Fernsehens. Inzwischen rattern, vor allem durch die breit angelegten Weinberge der neuen Welt, aber auch in Südeuropa, Traubenvollernter. Dies sind große Traktoren, mit denen geübte Fahrer die Rebzeilen rauf- und runterpreschen. Die angewandte Technik funktioniert nach dem Schüttel- und Rüttelprinzip: Beweglichen Glasfaserstäbe schlagen die Trauben von den Rebstöcken, diese fallen dann auf ein Förderband. Ein Gebläse setzt ein, das die Trauben reinigt und Blätter entfernt. Aber noch gibt es Regionen in denen die Weinlese ohne diese praktischen Maschinen durchgeführt wird: In den berühmten Lagen in Deutschland oder Frankreich, in denen unversehrtes Traubengut geerntet werden muss oder an den Steillagen der Mosel oder Ahr, wird die Weinlese wie vor 200 Jahren durchgeführt. Das ist verbunden mit Knochenarbeit, und die Weinguts-besitzer wären ohne Studenten oder die Helfer aus Nordafrika (Frankreich) oder Osteuropa (Deutschland) aufgeschmissen. Zum Feiern kommt es erst so richtig am Ende der Lese, dann, wenn der erste Most schon zu Alkohol vergären will. Vor allem in südlichen Gefilden verwandelt sich die Dorfgasse in ein Tohuwabohu aus Menschen, Autos, Pferden, Gejohle und Tanz. Und der Winzer steht im Keller, probiert den Most und hat erstmals eine Vorstellung vom künftigen Wein. Aber dann taucht doch wieder diese Ungewissheit auf, die zu schlaflosen Nächten führt, wie sich der edle Saft im Verlaufe der nächsten sechs Monate entwickeln wird.