Der preisgekrönte Mahler-Exeget Michael Gielen springt für Christoph von Dohnányi ein und dirigiert Mahlers Neunte Sinfonie

In der Not tut es gut, sich auf alte Freunde verlassen zu können: Überaus schmerzlich traf den NDR die Absage Christoph von Dohnányis, der im September mit dem NDR Sinfonieorchester seine Lesart von Gustav Mahlers Neunter Sinfonie vorstellen wollte. Doch ein langjähriger Freund, dem Orchester durch zahllose Gastkonzerte eng verbunden, stand rasch als Retter parat - und er ist fraglos mehr als ein bloßer Ersatz für einen ohnehin Unersetzbaren: Michael Gielen gehört zu den profiliertesten Dirigenten unserer Zeit und hat namentlich die Mahler-Rezeption nachhaltig beeinflusst. Gerade erst ist er mit dem Ernst-von-Siemens-Preis für sein Lebenswerk geehrt worden, der als inoffizieller Nobelpreis für Musik apostrophiert wird.

Auf dem Programm der Konzerte im Rahmen des orchesterübergreifenden Projekts "Mahler in Hamburg" steht, wie ursprünglich geplant, dessen Neunte Sinfonie. Dieses Spätwerk von 1908/09 ist im Zuge der immer noch anwachsenden Mahler-Begeisterung weltweit zu einer seiner meistgespielten Sinfonien avanciert - eine Beliebtheit, die gleichermaßen überraschend wie einleuchtend ist. Denn die Neunte Sinfonie gehört nicht nur zu Mahlers anspruchsvollsten und radikalsten Werken, sie nimmt ihre Hörer auch unweigerlich durch die Tiefe ihrer persönlichen Botschaft gefangen.

Der Anlass für die Komposition ist ein trauriger: "Schwarz angestrichen", so bemerkte Alma Mahler, sei das Jahr 1907 "im Kalender unseres Lebens", und ihre Erinnerungen an diese Zeit stehen vielsagend unter dem Titel "Leid und Angst". In jenem Sommer hat die Familie gleich drei Schicksalsschläge zu verkraften: den Tod der kleinen Tochter Maria Anna an Diphtherie, die Entdeckung eines bedrohlichen Herzleidens bei Mahler und nicht zuletzt seine von Kampagnen begleitete Demission als Hofoperndirektor in Wien. Bruno Walter berichtet über seinen Eindruck von Mahlers Verfassung: "Der Tod, zu dessen Geheimnis seine Gedanken so oft ihren Flug genommen hatten, war plötzlich in Sicht gekommen; unverkennbar spürte ich das Dunkel, das sich auf sein ganzes Wesen gesenkt hatte."

Schon das 1908 fertiggestellte "Lied von der Erde" ist mit seiner Mischung aus Fatalismus und verzweifelter Lebensgier ein bedrängendes Echo dieser Stimmung. Vollends die Neunte aber wird zum Spiegel der seelischen Traumatisierung, die das "annus horribilis" 1907 bei Mahler hinterlassen hat.

Die großen Themen Abschied und Tod begleiten bereits die posthume Uraufführung 1912 unter der Leitung von Bruno Walter. In einer Besprechung heißt es: "Wenn einer das Weinen lernen will, dann höre er sich den ersten Satz dieser Neunten an, das große, herrliche Lied vom Nimmerwiedersehen!"

Doch die Wucht und die Eindringlichkeit, mit der Mahler dieser Thematik in nahezu allen Facetten Ausdruck gegeben hat, sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass selbst diese Sinfonie des Abschieds Momente der Hoffnung kennt, die in solchem Umfeld nur umso ergreifender wirken. Davon kündet besonders der Schlusssatz, ein gewaltiges Adagio-Gebet, das dem Werk seine letzte und entscheidende Wendung gibt: Mahler zitiert hier eine Stelle aus seinen ungewollt prophetischen "Kindertotenliedern". Das ist zum einen ein Verweis auf den Ursprung des endzeitlichen Lebensgefühls, das Mahlers Schaffen seit dem Sommer 1907 prägt. Mehr noch aber ist es Ausdruck seiner Überzeugung: dass auf Tod und Sterben ein neues Leben, ein Wiedersehen (wie es in Rückerts Text heißt) "auf jenen Höh'n im Sonnenschein" folgen wird.

Abo-Konzerte 23.9., 20 Uhr, und 26.9., 11 Uhr, Laeiszhalle. Karten unter T. 0180/178 79 80 und unter www.ndrticketshop.de