Die Schau Ideen sitzen beleuchtet die Entwicklung des Stuhles vom Funktions- zum Kunstobjekt

Ein Stuhl ist in erster Linie zum Sitzen da. Aber er ist noch viel mehr. "Hinter jedem Stuhl steht eine spezifische Gestaltung", sagt Dr. Rüdiger Joppien, Kurator am Museum für Kunst und Gewerbe. Das Museum hat seine namhafte Sammlung an Sitzmöbeln erst kürzlich um 20 moderne Designklassiker erweitern können. Diese will man nun erstmals in der Schau "Ideen Sitzen. 50 Jahre Stuhldesign" der Öffentlichkeit präsentieren, gemeinsam mit weiteren Designklassikern, die in den vergangenen 50 Jahren die Kehrtwende vom Funktions- zum Kunstobjekt vollzogen haben. In den 50er-Jahren begannen die Designer, mit Kunstobjekten den Kanon des Bekannten zu verlassen. Damals orientierte man sich an naturbezogenen Motiven. Zum Beispiel in so amüsanten Objekten wie dem Sitzelement "Pratone", das die radikale italienische Gruppo Strum 1966 entwickelt hat. Ein Hocker, der eine Art Kunststoffwiese darstellte. Als deutsches Pendant kann das Modell "Floris" von Günter Beltzig aus dem Jahre 1967 gelten. Das Möbel aus fiberglasverstärktem Polyester ist aus einem Guss gespritzt und zeigt sowohl eine florale als auch eigenwillig anatomische Gestalt. Es war die Hochzeit der Kunststoffe.

Entwürfe wie der Sessel "Sunball" von Günter Ferdinand Ris und Herbert Selldorf Ende der 60er-Jahre geben ein Beispiel für den Hang der Deutschen zur Gemütlichkeit. Die Wohnkapsel mit ausklappbarer Liege vermittelt einen Glauben an ein technisches Zeitalter mit bescheidenen Mitteln und hat in ihrem Abkapseln von der Außenwelt beinahe etwas Spießiges. Der funktionale Gegenstand trifft von nun an eine Aussage über seine Zeit.

Das wird vor allem zu Beginn der bewegten 70er-Jahre deutlich. Stefan Wewerka schafft mit dem "Classroom Chair" einen ersten Nonsens-Stuhl in Schräglage. Man kann an dem Stuhl buchstäblich die Zeit des Aufruhrs, der Apo ablesen, in der staatliche Institutionen abgelehnt wurden. "Alles schwankte, zitterte, löste sich auf", so Dr. Rüdiger Joppien. Auch bekannte Künstler und Architekten wie Frank Gehry, Donald Judd oder Franz West gehen mit ihren Entwürfen an die Öffentlichkeit. Getrieben von der Idee, aus einem vorgegebenen Gegenstand etwas Freies zu entwickeln. Frank Gehry schuf mit seinem "Wiggle Dining Chair" aus verklebter Wellpappe ein Objekt mit geringstem materiellem Aufwand.

"Wir wollen die Objekte in einem neuen Zusammenhang zeigen", sagt Dr. Joppien. Prinzipiell wurde in den 70er-Jahren wenig entworfen. "Die Gesellschaft war mit anderen Dingen beschäftigt. Die Kunststoffeuphorie brach nach der Ölkrise ab." Erst Ende der 70er-Jahre regte sich eine neue Gestaltungsfreude. Designer wie Allessandro Mendini verfremdeten vertraute Objekte. Für den Sessel "Poltrona di Proust" (1978) hat Mendini einen neobarocken Armlehnensessel mit einer auf Leinwand gezogenen Rasterung aus einem Gemälde von Seurat überzogen. Bürgerlichkeit verbindet sich hier mit moderner gepixelter Dekoration. "Es war die Möglichkeit, die Stagnation aufzubrechen. Hin zu einem größeren Fantasiereichtum der Formen und der Farben." Es wurde auch viel Metall geschraubt und geschweißt. Zum Beispiel von der Hamburger Gruppe Möbel Perdu oder dem Berliner Zimmer. Frank Schreiner schuf in seinem Stuhl "Consumers Rest" (1983) eine eigenwillige Kapitalismuskritik. Ein Einkaufswagen wird vorne heruntergeklappt zum fahrbaren Sitz. Später haben Philipp Starck oder Jasper Morrison neue Horizonte entwickelt. Leichtigkeit und Transparenz werden bei den Konstruktionen entscheidend. Auch bildende Künstler wie Bob Wilson schaffen populäres Design.

In den 90er-Jahren kehrt man zum Naturholz zurück. In den Jahren ab 2000 wird das Design immer globaler. Japaner wie Tokujin Yoshioka und Brasilianer wie die Brüder Fernando und Humberto Campana betreten die Szene. Ihr Sessel "Multidão Chair" von 2002 besteht aus Stahlgerüst und Stoffpuppen. Das Duo arbeitet mit Motiven der Folklore und hinterfragt die Aneignung durch die weiße Kultur.

"Wir wollen Positionen vorstellen, die zurzeit diskutiert werden", sagt Dr. Joppien. Ein Jahr lang hat er versucht, einen Stuhl von Patrick Jouin, einem Starck-Schüler, zu bekommen. In einem komplizierten computergestützten Verfahren wird er dreidimmensional in Schichten aufgebaut. Das Verfahren ist so aufwendig, dass er erst ab drei eingegangenen Bestellungen angefertigt wird. Das wertvollste Objekt der Ausstellung, der "Bone Chair", stammt von dem Holländer Joris Laarman. Für seine Herstellung hat sich der Künstler an den Wachstumsgesetzen von Knochen orientiert.

Ideen sitzen. 50 Jahre Stuhldesign 28.9.2010 bis 13.3.2011, Museum für Kunst und Gewerbe, Steintorplatz, Di-So 11.00-18.00, Do 11.00-21.00