Wenn Kinder sich plötzlich verändern, viel singen und beten und ihr Umfeld bekehren wollen, fragen Eltern sich, ob das normal ist. Meistens ja, meint Siegmar Grapentin, Bildungsreferent für die Evangelische Jugend in Hamburg. Der 43-Jährige hat viele Jugendliche in seiner Zeit als Diakon der Gemeinde Bergedorfer Marschen begleitet.

1. Warum gibt es Phasen, in denen Jugendliche plötzlich fromm werden?

Siegmar Grapentin:

Die meisten werden so mit zwölf oder 13 Jahren über Konfirmandenunterricht, Freundeskreise oder religiöse Jugendgruppen angeregt, über ihr Gottesbild nachzudenken. Sie fangen dann an, das als eine "Stütze" für ihr Leben zu entdecken. Sie setzen sich kritisch mit der Welt und ihrer Person auseinander und stellen Fragen nach dem Leben und Tod. Dann fangen sie an, nach Antwortgebern zu suchen. Das kann ein Popstar sein, aber auch eine christliche Jugendgruppe. Wenn die Gruppenerfahrung gut ist, die Mischung Verstand und Gefühl gut anspricht, werden sie fromm.

2. Welche Veränderungen sind ganz typisch?

Glaube ist eine große Autonomieerfahrung für die Jugendlichen. Sie beschließen etwas zu sein, was sie vorher nicht waren. Sie erfahren Zugehörigkeit über die Gruppen. Die Begrenztheit der Familie wird erweitert. Manche verändern ihren Musikgeschmack, hören christliche Popmusik statt Death Metal. Beten, Bibellesen, Mitarbeit und soziales Engagement in der Kirche werden wichtig.

3. Was bieten christliche Gruppen, was andere Jugendgruppen nicht haben?

Wenn es neben Spaß, Spiel und Sport auch noch eine Andacht gibt, ist das eine sehr starke, intensive Erfahrung, die Jugendliche in diesen Gruppen hält. Sie spüren eine Verbundenheit mit der Gemeinschaft und mit Gott. Christliche Gruppen sind von der Tendenz her offen für alle und akzeptieren auch Jugendliche, die es sonst schwer haben.

4. Was ist, wenn mein Kind mich missionieren will?

Das sollten Eltern nicht gleich abwehren. Was man nicht machen sollte, ist, das Kind in seinem "pubertären Wahnsinn" für bescheuert zu erklären. Denn den Jugendlichen ist ihr Glauben jetzt ganz wichtig, darin kann man sie auch bestärken. Aber ganz klar sollte man den Kindern auch sagen: Du hast nicht das Recht, mich zu missionieren. Du kannst mir deine Meinung sagen und wir können diskutieren. Wer sich traut, kann den Kindern über die eigene religiöse Biografie erzählen.

5. Ist es in Ordnung, wenn Eltern verletzt sind, weil Gott plötzlich so viel Platz im Leben ihres Kindes einnimmt?

So ein Gefühl ist völlig normal. Manchmal sind es ja auch Leitfiguren aus der Gruppe oder die Pastorin, die scheinbar wichtiger sind. Man sollte mit diesem Verletztsein ehrlich umgehen und dem Kind auch sagen, dass man es auch in der Familie braucht, dass man Zeit mit ihm verbringen möchte.

6. Wann ist religiöser Eifer nicht mehr normal. Ab wann sollten Eltern eingreifen?

Jede Art von zu starkem Rückzug von Freunden, Familie, Schule finde ich alarmierend. Warnsignale sind, wenn das Kind nur noch negativ auf kritische Nachfragen reagiert und aggressiv wird. Problematisch ist es auch, wenn das Kind anfängt, bestimmte Personen in seiner christlichen Gruppe zu vergöttern. Dann sollte man versuchen, mit den Gruppenleitern zu reden. Wenn die Gruppe jedoch sehr fundamentalistisch ist, kann man relativ wenig machen. Wichtig ist, dem Kind immer eine Tür offen zu halten.

7. Manche Jugendliche begeistern sich für das Fasten. Ist das sinnvoll?

Einfach nichts mehr essen ist gefährlich und sollte man verbieten. Man sollte sein Kind fragen, warum es fasten will. Es geht ja darum, Raum zu haben für Gebet und die äußeren Reize zu reduzieren. Und das kann ein Kind, wenn es Schokolade oder Fernsehen für eine Weile reduziert und das Geld oder die Zeit für andere Menschen verwendet.

8. Ab wann können Kinder auf eine christliche Jugendfreizeit gehen?

Richtig gut ist sie für die meisten ab dem neunten Lebensjahr. Fast alle Kinder finden die Reisen toll und die Eltern erleben, dass ihre Kinder danach gestärkt nach Hause kommen. Viele haben Entwicklungssprünge gemacht. Christliche Freizeiten sind sicher einer der Höhepunkte in der kindlichen Entwicklung.

9. Woher weiß ich, welche Freizeiten gut sind?

Man muss sich genau anschauen, was für Ziele diese Reisen haben, und sollte deswegen zu den Elternabenden hingehen. Wenn die Reisen nur dazu dienen, Kinder zu missionieren, finde ich das nicht gut. Das Programm sollte ausgewogen sein und religiöse Elemente kindgerecht vermittelt werden. Die Ehrenamtlichen müssen gut geschult sein.

10. Wie kann das Kind Kirchenmitglied werden?

Durch die Taufe wird man Kirchenmitglied in einer Gemeinde. Ab 14 Jahren ist es religionsmündig und kann ohne Elternerlaubnis in jede Religionsgemeinschaft eintreten. Kirchensteuern zahlt man, wenn man Geld verdient.

Beratung zum Thema: Siegmar.Grapentin@ejh-online.de , Tel.: 306 20 13 72, www.hhej.de . Katholischer Jugendverband: www.bdkj-hamburg.de

Sekten und Weltanschauungsberatung: Gabriele Lademann-Priemer, sektenberatung@nordelbien.de , www.glaube-und-irrglaube.de