An was glauben Sie? Die mehrfache Box-Weltmeisterin Susianna Kentikian glaubt an Gott, an sich selbst, an ihren Schutzengel und an das vierte Gebot.

Kleidung, besonders bei Frauen, ist auch immer ein Spiegel der Seele. Susianna Kentikian trägt beim Interview im Universum Gym in Wandsbek eine weiße Jeans und ein weißes Long Sleeve. Weiß wie die Unschuld. Das passt auf den ersten Blick nicht wirklich zu einer Boxerin, die Geld damit verdient, andere unschuldige Mädchen umzuhauen.

Ihr Kampfname: Killer Queen. Ihr Titel: Weltmeisterin. Ihre Bilanz: 27 Kämpfe, 27 Siege, 16 K.o.s. Ihr Stil: aggressiv, immer voran, wie ein Duracell-Hase, bam, bam, bam! Wer einigermaßen an seinem Gesicht hängt, sollte ihr im Ring einfach nicht begegnen.

Aber dann lächelt die 22-Jährige, beißt in eine Zuckerschnecke, krümelt, kichert - und schon passt sie wieder zu ihrem unschuldigen Look. Ihr Stil kommt so gut an, dass sie als Nachfolgerin der Klitschko-Brüder inzwischen für Ferrero werben darf, und kürzlich hat Kentikian in ihrem ersten Film mitgespielt: als junge Boxerin, die sich ein besseres Leben erkämpfen will. Der Inhalt des Films entspricht in dieser vereinfachten Form ihrer eigenen Biografie; nur der Titel der Produktion klingt seltsam: "Der Himmel hat vier Ecken." Ein Antagonismus, auch für Kentikian: "Der Himmel ist frei, da gibt es keine Ecken. Ich schaue gerne nach oben in die Wolken, dieser schöne Anblick beruhigt mich."

Beispielsweise nach anstrengenden vier Stunden Training täglich, nach Auseinandersetzungen mit dem Sandsack oder Sparringspartnern. Nach Blut, Schweiß und Tränen. Unwahrscheinlich, dass im Himmel tatsächlich jemals ein Ringkampf stattfände. "Stimmt, Gott steht nicht so darauf, dass man sich prügelt. Eigentlich müsste er etwas gegen den Boxsport haben. Aber er selbst hat mir ja meinen Weg gezeigt."

Susianna Kentikian ist davon überzeugt, dass sie ohne Gottes Unterstützung nie Weltmeisterin geworden wäre. "Ich habe alles nur durch meinen Glauben geschafft, weil ich durch ihn diese Kraft habe, eine innere Energie."

Seit 2007 trägt Kentikian die Weltmeister-Titel der Verbände WBA und WIBF, 2009 kam der Gürtel der WBO hinzu, den sie Ende April in der Alsterdorfer Sporthalle mit einem knappen Punktesieg gegen Nadia Raoui aus Herne verteidigte.

Vor ihr kämpften die Männer - nicht nur gegeneinander, sondern auch gegen die schwindende Aufmerksamkeit im Publikum. "So weit ist es gekommen", meckerte ein Zuschauer. "Diese kleine Frau hat uns aus unserem Revier verdrängt."

Die kleine Frau misst 154 Zentimeter und hat es schon mit weitaus größeren Problemen aufgenommen als mit Klischees. Sjusanna Lewonowna Kentikjan wurde in Eriwan, Armenien, geboren, wo sie heute wie eine Volksheldin verehrt wird.

Früher war das in ihrer Heimat anders. Im Alter von fünf Jahren floh Susianna mit ihrer Familie wegen des Krieges um Bergkarabach außer Landes. Nach Stationen in Berlin, Moldawien und Russland kam die Familie schließlich 1996 nach Hamburg. Sie lebte erst auf dem Containerschiff "Bibby Altona", einer Unterkunft für Asylbewerber, dann zog sie in ein Flüchtlingsheim. "Fünf Jahre mussten wir dort aushalten. Ich habe mich immer nur gefragt: Wann kommen wir endlich hier raus? Es war wie ein Gefängnis", erzählt Kentikian. "Aber ich habe etwas Heiliges, eine ganz besondere Kraft in mir gespürt. Das hat mir geholfen, alles durchzustehen und Geduld zu beweisen. Es gab jedoch Momente, wo ich mich wirklich zusammenreißen musste." Wenn die Enge und die Angst vor der Abschiebung zu groß wurden etwa. Ihr großer Bruder, den Susianna heute "einen wahren Engel" nennt, nahm sie schließlich mit zwölf Jahren zum ersten Mal mit zum Boxtraining - die beste und rettende Idee für die ganze Familie. Dort konnte die Schwester "den ganzen Mist raushauen", und ihr erster Profivertrag 2005 sicherte allen das Bleiberecht.

Doch der Kampf ging weiter. In den folgenden Jahren arbeiteten die Kentikians unermüdlich, fast bis zum Umfallen. Die Eltern übernahmen gleich mehrere Minijobs, der Bruder hatte zwei, Susi bekam einen Job als Putzhilfe im Fitnessstudio. "Wir wollten dem deutschen Staat nicht auf der Tasche liegen. Das hat etwas mit Stolz zu tun."

Susianna Kentikian hat durch ihre Erfolge schließlich alle frei geboxt. Die Jüngste der Familie kann ihren Eltern ein Leben finanzieren, das nicht morgens mit Kummer anfängt und abends mit Sorgen endet.

Alle vier gehören der armenisch-katholischen Kirche an, in der die Familie als hohes Gut gilt. "Letztens hat mich ernsthaft jemand gefragt, warum ich meinen Eltern ein Haus gekauft habe. Was für eine absurde Frage. Das vierte Gebot, du sollst Vater und Mutter ehren, ist für mich das wichtigste von allen", sagt Kentikian.

Wenn sie so leidenschaftlich spricht, tänzeln ihre dunkelbraunen Locken durch die Luft, als hätten auch sie beim Training gut aufgepasst: immer locker und geschmeidig bleiben. Susi Kentikian verkörpert ihren Beruf bis in die Spitzen. Sie wird auch in Zukunft so kämpfen, als sei eine Niederlage gleichbedeutend mit dem sofortigen Rückfall in alte, dunkle Zeiten. "Wenn mir etwas sehr wertvoll ist, dann kämpfe ich dafür - notfalls sogar bis zum Tod", sagt sie und schiebt die angebissene Zuckerschnecke energisch zur Seite.

Ende Juli könnte es zum Rückkampf gegen Nadia Raoui kommen, den Kentikian ihrer Gegnerin fairerweise angeboten hatte. Sie fürchtet keinerlei Schmerzen, weil sie einen Schutzengel habe, der sie in den Ring begleite, erzählt die Wandsbekerin. In Kirchen geht sie allerdings selten, beten oder sich bekreuzigen würde sie sich vor einem Kampf nie.

Für eine Boxerin, die eher das Handfeste schätzt, zählt vor allem der Glaube an sich selbst - und an den persönlichen Schutzengel. "Wer nicht an seinen Schutzengel glaubt, lässt ihn nicht an sich heran, sondern anstatt dessen nur die vielen negativen Dinge. Mit diesen Hindernissen spürt man den Engel nicht, und den darf man auf keinen Fall verlieren: Der Engel ist mein Schutzschild."