In Bassenfleth finden Suchtkranke ein Zuhause. Für viele ist dies letzte Zuflucht und letzte Chance

Bassenfleth. Wer hier ankommt, hat vorher schon alles durch: Alkoholmissbrauch, Abhängigkeit, Entgiftungen, verschiedene Krankheiten, sozialen Abstieg, den Verlust von Arbeit, Haus und Familie. Doch der alte Obsthof in Bassenfleth wird für die, die es hierher schaffen, zu einem neuen Zuhause. "Für viele ist dies die letzte Chance", sagt Heimleiter Oliver Bartsch, 43, Diplom-Sozialpädagoge, der seit 15 Jahren im Haus hinter dem Deich mit Suchtkranken arbeitet. Vertreten sind hier Menschen aus allen Altersgruppen und sozialen Schichten. "Von Anfang 20 bis 65, vom Gerüstbauer bis zum Architekten - sie fühlen sich hier heimisch", sagt Bartsch.

Betrieben wird das 1996 eröffnete Haus vom Verein für Sozialmedizin (VSM) Stade, der auch Wohngruppen in Stade, das drogenfreie "Café Contact" und landkreisweit Selbsthilfegruppen zum Thema Sucht unterhält. Die Einrichtung ist ständig ausgebucht, gut 40 Menschen leben dauerhaft im Haupthaus und in drei nahe gelegenen Wohngruppen. "Der Anteil an Frauen liegt mit etwa einem Viertel recht hoch", erklärt Heimleiter Bartsch. Gelegentlich finden hier Pärchen zusammen - "sie stützen sich gegenseitig" - und versuchen den Neuanfang außerhalb der Einrichtung. Viele sind bereit, ihre bewegende Geschichte zu erzählen. Doch wer sich Hoffnungen auf einen Neuanfang "draußen" macht, der will nicht namentlich genannt werden - ein "Outing" als Alkoholiker könnte die Suche nach einem Job sehr erschweren.

Eine Bewohnerin, die im Sommer zusammen mit anderen ausziehen und anschließend in einer Wohngemeinschaft leben möchte, blickt zurück: "Ich habe schon als Kind angefangen zu trinken, mit Anfang 20 war ich dann schon bei Schnaps und Whisky." Sie heiratete einen Alkoholiker, trennte sich wieder, zog die gemeinsame Tochter allein groß. "Ich habe mich irgendwie dahingeschleppt, habe auch bei der Arbeit funktioniert." Doch irgendwann ging das nicht mehr. Mit Mitte 30 kam die erste Entgiftung, weitere folgten jedes Jahr. "Ich habe immer wieder aufgehört und immer wieder angefangen, es war ein täglicher Kampf." Schließlich kamen Depressionen, sie wollte nicht mehr leben und dachte sogar an Selbstmord.

Inzwischen ist sie über ein Jahr lang trocken, doch die Angst bleibt: "Wenn ich allein wäre, würde ich das nicht hinkriegen." Deshalb möchte sie mit anderen gemeinsam ein Haus mit Garten suchen und in einer Wohngemeinschaft leben. Überhaupt ist Alleinsein ein Risiko, wie Gespräche mit Bewohnern zeigen, die schon zum zweiten Mal hier sind, weil sie es nicht geschafft haben, draußen trocken zu bleiben.

"Als ich allein war, habe ich wieder angefangen zu trinken", sagt ein Mann. Schnell sei er bei "zwei Flaschen Wodka pro Tag" gewesen. Allein sind Suchtkranke häufig. Auf dem Weg nach unten sind die sozialen Strukturen weggebrochen, Familien und Ehepartner, Freunde und Arbeitskollegen haben sich abgewendet. So fehlt ein stützendes Umfeld, die Gefahr eines Rückfalls wächst.

Während des Aufenthaltes im Haus hinter dem Deich gelten klare Regeln und feste Zeiten für die Mahlzeiten: "Das ist für viele total ungewohnt, das kannten sie vorher gar nicht", sagt Oliver Bartsch, doch gerade die Schaffung von Strukturen sei besonders wichtig beim Weg aus der Abhängigkeit. Die Teilnahme an Gesprächsgruppen ist obligatorisch. Die Bewohner arbeiten im Haus und im Garten, sie kochen, waschen ab, putzen und bügeln, reparieren Fahrräder und renovieren den alten Obsthof, halten das Grundstück in Schuss und stellen ihre Kreativität unter Beweis. Es gibt Werkstätten und eine Computergruppe. Einige üben einen Beruf aus, sie arbeiten auf 400-Euro-Basis in Bau- und Kaufmärkten.

Einmal in der Woche fahren Bewohner mit Heimleiter Bartsch nach Stade zum Solemio, andere gehen zum Angeln oder Kegeln. Die Bewohner sind freiwillig hier, doch die Regeln sagen, dass kein Alkohol, keine Suchtmittel und keine Tabletten ins Haus kommen. Deshalb werden Einkäufe überprüft, auch Atem- und Urinkontrollen gibt es. Für manche ist es auch ungewohnt, dass Gewalt und die Androhung von Gewalt verboten sind. Wie lange die Bewohner bleiben, ist ganz unterschiedlich und wird im Einzelfall entschieden.

Eine ärztliche Bescheinigung über Dauerschäden ist Voraussetzung für die Aufnahme. Bartsch: "Wer jahrzehntelang getrunken hat, der braucht mindestens ein Jahr." Danach trauen sich viele einen Neustart "draußen" zu. "Für mich soll das hier nicht die Endstation sein", sagt ein Mann, der anonym bleiben möchte, um seine Chancen bei der Bewerbung um einen Arbeitsplatz nicht zu schmälern. Er ist knapp drei Jahre in Bassenfleth und ebenso lange "trocken". Nun bereitet er sich auf das Leben draußen vor. Und eines weiß er ganz genau:: "Ich möchte gern wieder Fuß fassen." Unterstützung gibt es bei der Schuldenregulierung, bei Behördengängen und beim Auszug. Doch es gibt auch die, die sich außerhalb der geordneten kleinen Welt hinter dem Deich nicht mehr zurechtfinden würden: "Viele sind nicht mehr arbeitsfähig, zwei sind sogar schon die ganzen Jahre hier", sagt Heimleiter Bartsch. Als Folge des langjährigen Alkoholmissbrauchs sind Organe wie Leber, Lunge, Gehirn, Nerven oder Herz geschädigt. So ist das eine Ziel die Wiedereingliederung in die Gesellschaft und Arbeitswelt, das andere schlicht die Verlängerung des Lebens.

Oliver Bartsch: "Es ist ein gutes Gefühl, helfen zu können. Wenn einer ausgezogen ist und sagt: ,Es geht mir gut, ich lebe noch', dann ist das befriedigend. Schlimm ist es, wenn sie sterben, aber selbst wenn man 60 Jahre alt ist, kann man hier noch mal so richtig durchstarten und hat dann vielleicht noch zehn schöne Jahre."

Weil die Zeit in Bassenfleth für immer ein wichtiges Kapitel im Leben bleibt, wird das alljährliche Frühlingsfest am ersten Sonntag im Juni zum großen Wiedersehen der jetzigen und ehemaligen Bewohner. Immer willkommen sind Geld- und Sachspenden. Die Langzeiteinrichtung ist telefonisch unter 04141/79 22 11 zu erreichen.

www.suchtkrankenhilfe-stade.de