In Altona sind türkische und afrikanische Stadtteilmütter im Einsatz: Sie besuchen Frauen aus ihrem Kulturkreis, beraten unbürokratisch bei Erziehungs-, Ernährungs- oder Schulfragen und bieten ihnen so Wege aus der Isolation. Ein Projekt der Diakonie, dass bundesweit Schule macht

Manchmal muss es ganz schnell gehen. Und deshalb steht die Frau mit der beigen Schiebermütze nur wenige Minuten nach ihrem Telefonanruf vor Delphine Takwi in der Tür. Die beiden begrüßen sich, dann sprudelt es aus Fatumata Mané heraus. "This is a letter from the kindergarten", sagt sie in holprigem Englisch und kramt Fotokopien aus der Tasche. In ihrem Gesicht spiegelt sich Unsicherheit, auch ein bisschen Angst. Fatumata Mané kann nicht lesen. Nicht Deutsch, nicht Englisch und auch nicht das Kreol Guinea-Bissaus, ihre Muttersprache. Die Buchstaben auf dem Papier sind für sie geheime Zeichen. Die Westafrikanerin weiß nur, was da steht, hat etwas mit ihren beiden Töchtern Isa, 5, und Mamasa, 4, zu tun. Deshalb musste sie jetzt gleich kommen, und konnte nicht auf das verabredete Treffen in ein paar Tagen warten. Denn Delphine Takwi kann lesen - und übersetzen. Und das tut sie auch. Jetzt. Sofort. Weil sie weiß, wie Fatumata sich fühlt.

Beide Frauen stammen aus einem afrikanischen Land. Beide sind mit ihren Männern nach Hamburg gekommen. Ohne Familie, ohne Freunde. Und beide konnten anfangs kein Wort Deutsch. "In den ersten drei Monaten war ich nur zu Hause und habe geweint", sagt Delphine Takwi mit leicht norddeutschem Zungenschlag. "Ich weiß, wie schwer das ist." Zwölf Jahre ist das her. Inzwischen ist die 37-Jährige Kamerunerin an der Elbe zuhause. Sie hat zwei Töchter, Pangema und Delphlis. Ihr Mann hat einen guten Job. Sie arbeitet als Tagesmutter. Engagiert sich in der freikirchlichen Gemeinde Elim an der Mundsburg. Und unterstützt als Stadtteilmutter seit neustem andere Migrantinnen. "Es gibt so viele ausländische Frauen, die isoliert zuhause sitzen. Ich möchte ihnen Mut machen und helfen, dass sie sich hier zurechtfinden und ihr eigenes Leben führen können."

Die quirlige Frau ist eine von zwölf Stadtteilmüttern, die seit Anfang Dezember in Altona-Altstadt unterwegs sind. "Man muss in die Familien gehen, damit die Frauen rauskommen", sagt Sonnur Barat. Gemeinsam mit ihrer afrikanischen Kollegin Diana Jeruto Lagat leitet die türkischstämmige Sozialarbeiterin das Projekt des Hamburger Diakonie-Hilfswerks. Die Idee: Mütter besuchen Mütter, beraten sie in ihrer Muttersprache, bringen das Wissen direkt ins Wohnzimmer - von Frau zu Frau. Warum sollte man zum Schul-Elternabend gehen? Was schmeckt Kindern und ist trotzdem gesund? Wieso ist es wichtig, andere Kinder zur Geburtstagsparty einzuladen? Oft sind es Fragen, die Einheimische gar nicht stellen würden. An der Menschen mit anderen kulturellen Wurzeln und ohne Sprachkenntnisse aber verzweifeln.

"Die Stadtteilmütter sind eine Eingangstür, damit die Frauen Schwellenängste überwinden und den Weg in die Gesellschaft finden", sagt Angela Bähr, die bei der Diakonie für Migrations- und Frauensozialarbeit verantwortlich ist. Oft sind staatliche Angebote schwer zu durchschauen, Regeln des Zusammenlebens anders. "Die Beratung setzt da an, wo das etablierte Hilfesystem noch nicht hinkommt. Die Frauen können Brücken bauen."

Meltem Demirel war gleich begeistert von der Idee. Nachdem sie einen TV-Beitrag über die Stadtteilmütter in Berlin-Neukölln gesehen hatte (s. Infotext), war sie auf die Suche nach einem ähnlichen Angebot in Hamburg gegangen. Auch die 45-Jährige hatte große Schwierigkeiten, als sie vor 20 Jahren mit ihrem deutschen Ehemann aus Izmir nach Hamburg kam. In ihrer Heimat hatte sie Kunst studiert, plötzlich saß sie den ganzen Tag allein in der Wohnung, während ihr Mann arbeitete. "Ich fühlte mich orientierungslos, musste bei Null anfangen." Sie machte sich auf dem mühsamen Weg, lernte Deutsch, verdingte sich als Hilfsarbeiterin in einem Textilbetrieb. Die Ehe zerbrach darüber. Meltem Demirel hat wieder geheiratet. Ihr Mann hat türkische Wurzeln, ist in Deutschland aufgewachsen. Sie haben zwei Töchter, Ece, 14, und Elif, 13. Beide besuchen das Gymnasium. "Ich habe mich immer als Elternvertreterin engagiert, habe versucht, zu vermitteln. Und mich um Familien gekümmert, die nicht so gut Deutsch sprechen und nicht wissen, wie das Schulsystem funktioniert", sagt sie. "Ich wollte das gern offizieller machen." Als sie einen Informations-Flyer über die Hamburger Stadtteilmütter bekam, rief sie spontan an. Am nächsten Tag ging es los.

Sechs Monate dauerte der Qualifizierungs-Kurs. Die Frauen haben sich mit Einwanderung, Erziehungsproblemen, medizinischer Vorsorge, Zweisprachigkeit, gesunder Ernährung beschäftigt - und immer damit, wie sie andere Migrantinnen ermutigen können, Kontakte zu knüpfen und die vielfältigen Hilfsmöglichkeiten zu nutzen. "Anfangs habe ich gedacht, das könnte langweilig werden. Aber so war es nicht", sagt Meltem Demirel. Auch weil alle angehenden Stadtteilmütter viel gemeinsam haben: Sie stammen aus einer Einwandererfamilie, leben in Altona, sind Mütter und haben Erfahrungen mit Kita und Schule. Und kennen die Probleme des Alltags. Denn vieles ist eben doch ganz anders als in ihren Heimatländern. "Im türkischen Schulsystem gibt zum Beispiel deutlich weniger Mitsprachemöglichkeiten", sagt Demirel. "Deshalb verstehen viele Familien erst mal gar nicht, dass sie hier ein Elternabend sehr wichtig sein kann." Dazu kommt, dass die gerade die zugereisten Frauen wenig gebildet seien.

Inzwischen ist sie "Danisman Anne", eine türkische Stadtteilmutter mit Zertifikat, und betreut drei Familien. Wenn sie in ihrer Mission unterwegs ist, trägt sie den hellblauen Seidenschal mit dem Signet der Stadtteilmütter und eine passende Kuriertasche. "Damit wir erkennbar sind." Denn die Kontakte sollen sich durch persönliche Beziehungen ergeben. Zehn Termine zu verschiedenen Themen von einer bis 1,5 Stunden sind vorgesehen. Es gibt Formulare, in die Probleme, Hilfsangebote und Bemerkungen eingetragen werden sollen. "Aber das bleibt intern. Wir haben Schweigepflicht, melden nichts ans Jugendamt oder andere Behörden", sagt Meltem Demirel.

An diesem Tag klingelt sie bei Ebru Karasoylu. Es ist ihr zweiter Besuch bei der allein erziehenden Mutter mit drei Kindern. "Nasilsin?", grüßt Meltem Demirel die 33-Jährige mit der 18 Monate alten Mira-Alia auf dem Arm an der Tür. "Wie geht es dir?" "Iyiyim", antwortet die junge Mutter. "Gut." Aber ihre Augen sehen müde aus, der dreizehnjährige Cihan ist krank, die sechsjährige Dilan tanzt aufgekratzt durch die Drei-Zimmer-Wohnung. Eigentlich soll es an diesem Tag um zweisprachige Erziehung gehen. Demirel erzählt, dass sie mit ihren Töchter bis zur Kita nur Türkisch gesprochen habe. Und von ihrem mühsamen Weg, den Mädchen beide Sprachen nahe zubringen. Bei den Karasoylus ist es umgekehrt, alle sprechen besser Deutsch als Türkisch. Deshalb hat die Stadtteilmutter türkische Bilderbücher für die Kinder mitgebracht und ein Infoblatt mit zweisprachigen Gruppen für Mutter und Kleinkinder. "Das hört sich gut an", sagt Ebru Karasoylu. Sie ist in Altona aufgewachsen, hat die Realschule besucht, früh geheiratet. "Jetzt bin ich allein." Kontakte außerhalb der Familie hat sie kaum. Der Vater kommt einmal in der Woche. Und es gibt Tage, an denen das Leben mit den drei Kindern ihr über dem Kopf zusammenschlägt. "Ich bin froh, dass die Stadtteilmutter kommt und mich unterstützt", sagt sie.

Am Anfang sei sie sehr unsicher gewesen, sagt Meltem Demirel. Sie kommt als Fremde in eine Familie, soll helfen und beraten. "Aber wenn man offen hingeht, genau hinguckt und Gemeinsamkeiten findet, dann gewinnt man auch das Vertrauen." Bei ihrer ersten Familie war das so. Die Mutter sei total verzweifelt gewesen, nachdem ihr Mann einen schweren Unfall hatte und komplett ausfiel. "Die Frau war isoliert und konnte kein Deutsch, obwohl sie schon fünf Jahre in Hamburg ist." Und dann kam ein Brief von der Schule. Es ging um den Sprachtest für das viereinhalbjährige Kind. Sie habe ihr dann immer wieder erklärt, sagt die Stadtteilmutter, dass sie hingehen müsse und sich anmelden. Ihr Auftrag: Hilfe zur Selbsthilfe. Diese Balance zu finden, ist nicht einfach. "Zum Schluss hat die Mutter es allein geschafft."

Auch Stadtteilmutter Delphine Takwi hat schon einiges in Gang gesetzt. Fatumata Mané, die 33-Jährige aus Guinea-Bissau, hatte sie im Kindergarten gesehen. "Ich erkenne meine Schwestern. Sie sah immer so traurig aus, sagte nur ,Hallo'." Als sie sie dann eines Tages weinend auf der Straße traf, sprach sie Fatumata Mané an. Inzwischen weiß die Stadtteilmutter, dass die dreifache Mutter aus einem Dorf in einem der ärmsten Länder Welt kommt. Sie hat angefangen, mit der Analphabetin Englisch lesen und schreiben zu üben. "Außerdem besucht sie jetzt einen Deutschkurs", sagt die Afrikanerin mit deutschem Pass, die fließend Englisch und Französisch spricht und in ihrer Heimat ein Linguistik-Studium abgebrochen hat - um ihrem Mann nach Deutschland zu folgen. Für Fatumata Mané war die Begegnung ein "großes Glück", wie sie betont. "Sie hilft mir sehr. Ich habe jetzt eine Freundin."

Oft sind es schon kleine Hinweise, die den Frauen helfen, das Leben in Deutschland besser zu meistern. Etwa, dass regelmäßige Vorsorgeuntersuchung sinnvoll sind und kein Versuch des Staates, die Kinder wegzunehmen. Oder, dass man Bücher auch in Bücherhallen ausleihen kann und nicht kaufen muss. "Die Stadtteilmütter sind sehr motiviert", sagt Projektleiterin Barat. Sie bekommen eine Aufwandsentschädigung von 120 Euro für zehn Hausbesuche. "Aber die Hauptmotivation ist nicht das Geld", sagt die Sozialarbeiterin. "Die meisten wollen vor allem helfen." Das Interesse ist groß, gerade hat ein neuer Qualifizierungskurs begonnen. In Altona-Altstadt kommen die Stadtteilmütter gut an. Sie haben sich zunächst auf afrikanische und türkische Frauen konzentriert, weil eine Bedarfsanalyse des Bezirksamtes festgestellt hat, dass vor allem diese Hilfe brauchen. Inzwischen haben auch Stadtteile wie Billstedt Interesse anmeldet.

Es gibt noch einen weiteren Aspekt. Das Projekt soll "die Stadtteilmütter unterstützen, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen", sagt die Integrationsexpertin Bähr. Drei Jahre läuft die Modellphase, angeschoben mit Mitteln des Hamburger Spendenparlaments. Seit diesem Jahr ist der Bezirk Altona mit 50 Prozent an den Kosten von unter 100 000 Euro beteiligt, der Rest muss aus Spenden kommen. In Zukunft, hoffen die Initiatoren, könnten die Stadtteilmütter ganz in die staatliche Finanzierung übergehen. Denn sie sind auch eine Art Frühwarnsystem, das das Hilfsangebot ergänzen soll. "Es geht darum, Signale und Hilferufe aufzunehmen, bevor es zu spät ist und die Situation in einer Familie eskaliert", sagt Bähr in Hinblick auf Fälle von Gewalt gegen Frauen oder auch um die konkrete Gefährdung von Kindern.

Ganz schön hohe Erwartungen. Ja, sagt Delphine Takwi und nickt. "Das Leben einer Stadtteilmutter ist in der Praxis anders als in der Theorie", sagt sie. Anders als vorgesehen ist sie bereit, auch außerhalb der Besuchstermine schnell einzuspringen. "Man kann die Probleme konkret angehen." Auch bei Fatumata Mané ist das so. An diesem Tag ist sie erstmal erleichtert. In dem Brief des Kindergartens geht es um einen Englisch-Kurs, für den sie ihre Töchter anmelden könnte. "Das solltest du dir überlegen", sagt Stadtteilmutter Takwi auf Englisch. "Gerade auch, weil deine Mutter dich nicht zur Schule schicken konnte." 29 Euro soll der Unterricht im Monat kosten. Fatumata Mané schüttelt den Kopf. Zu viel für die Familie. Delphine Takwi ist schon einen Schritt weiter. "Bestimmt gibt es Möglichkeiten, einen Zuschuss zu bekommen", sagt die Stadtteilmutter. Und hat eine neue Aufgabe.