Kinder müssen sich bewegen und ihre Spielräume erobern. Tipps, wie das auch in der Großstadt möglich ist

Hamburg ist als Großstadtdschungel kein Kinderparadies. Aber dennoch können die Kleinen hier ihre Plätze erobern - wenn Eltern es zulassen. Warum Bewegung so wichtig ist, erklärt Sportwissenschaftler Ivo Hoin, 42. Er ist Vorstandsvorsitzender des Hamburger Forums Spielräume e.V., das Kitas, Schulen und Stadtteilplaner unterstützt, kinderfreundliche Lebensbedingungen zu schaffen. Der Verein wurde von der Evangelischen Akademie mit gegründet.

1. Warum ist Bewegung heute so viel mehr ein Thema als früher?

Ivo Hoin:

Früher konnten Kinder außerhalb der Wohnung schnell ihre Abenteuer erfahren, heute sind diese Räume durch die Verkehrssituation oft nicht mehr erlebbar. Kinder leben in Inseln oder zu Hause. Das heißt, die Kinder werden zur Kita, zum Sportverein oder Freund gefahren. Fahrradfahren gilt schon als super mutig.

2. Warum ist es so wichtig, den Bewegungsdrang bei Kinder zu fördern?

Hoin:

Die Bewegung ist eine Brücke der Kinder zur sozialen, materiellen und kulturellen Welt. Und durch die Bewegung erhalten sie Selbstvertrauen, bilden ihren Körper aus und erleben ihre Sinne. Wer sie in diesem Drang nicht unterstützt, bekommt unmutige, unlustige, frustrierte kleine Monster.

3. Ist es denn sinnvoll, dass ein Kind jeden Tag eine Sportart ausübt, um genügend Bewegung zu bekommen?

Hoin:

Das kommt darauf an. Sportvereine haben gemerkt, das Bewegung Lebenselexir ist und binden Kinder früh an sich, zum Beispiel durch Eltern-Kind-Turnen oder Fußball. Diese Erfahrungen sind wichtig, aber Eltern denken oft, dass eine Stunde Hockey Bewegung genug sei für einen Tag. Das reicht jedoch lange nicht, es sei denn, das Kind darf alleine mit dem Fahrrad zum Training fahren und dabei noch ein paar Abenteuer auf dem Weg erleben. Dann wird daraus ein Paket aus drei Stunden. Das passt.

4. Gibt es denn auch ein Zuviel an Bewegung?

Hoin:

Ja, es gibt ein Zuviel an einseitiger Bewegung. Sie sollte vielfältig und variantenreich sein. Ein Junge, der nur Fußball spielt, sollte auch mal skaten oder schwimmen, um seinen Körper unterschiedlich zu erleben.

5. Mein Kind ist gerne Stubenhocker, wie kann ich es motivieren, raus zu gehen?

Hoin:

Kinder sind nicht von klein an Stubenhocker, Sie wurden dazu gemacht. Bis sie etwa vier Jahre alt sind, haben Kinder ganz viel Bewegungs- und Spiellust. Wenn das jedoch immer gedeckelt wurde, weil es angenehm war, dass das Kind am Nachmittag Medien konsumiert, dann bekommt man das Kind nicht plötzlich wieder hochgefahren.

6. Städte und große Straßen sind nicht unbedingt kindgerecht. Wie können Kinder sich trotzdem Spielräume erobern?

Hoin:

Indem sie Räume und Plätze umdeuten. Dazu braucht man nur etwas Selbstvertrauen und vielleicht Absprachen mit der Nachbarschaft. Jede Wohnung hat meistens Grün um sich rum, Kirchvorplätze sind oft ungenutzt, Fußballplätze morgens frei und eigentlich müsste auch jeder Schulhof und jede Kita am Wochenende frei zugängig sein. Und tolle geschützte Plätze sind natürlich Bauspielplätze, gerade auch für ältere Kinder

7. Kinder spielen gerne unbeaufsichtigt. Ab wann kann man Kinder auch in der Großstadt alleine ziehen lassen?

Hoin:

Ein Alter kann ich nicht bestimmen, denn es kommt darauf an, was sie vorher erlebt haben und mit welchem Mut sie vorher schon an die Welt herangeführt wurden. Ob sie schon alleine zum Bäcker oder sogar zur Kita gehen durften.

Eltern sind heute leider viel weniger gelassen als früher, sind ehrgeiziger, oft unsicher oder engen das Kind mit ihren Forderungen so ein, dass es kein Selbstvertrauen bekommt und sich nichts zutraut. Eltern müssen lernen, dass Kinder Zeit und Raum brauchen, über die sie selbst verfügen.

Dafür muss man aber auch als Eltern Risiken und Misserfolge, Beulen und Kummer aushalten.

Und man kann ja auch mit den Kindern Regeln vereinbaren, dass sie sich zum Beispiel mit ihrem Handy melden, wenn sie dann am Zielort angekommen sind.

8. Wie viel Zeit braucht ein Kind für sich alleine?

Hoin:

Kinder mögen vor allem im Kindergarten-Alter gerne mal in ihrer Langeweile schwelgen und dann wieder erkunden, entdecken und sich ausruhen. In der Kita gelingt das oft ganz gut, da gibt es viele Freiräume. In der Schule sind sie von morgens bis oft in den Nachmittag hinein durchorganisiert. Deswegen brauchen sie danach jeden Moment für sich, indem sie frei entscheiden können. Also weniger Klavier, Ballett oder Englisch zusätzlich. Es sei denn, das Kind wünscht es ausdrücklich. Aber ein Grund vieler neuer Kinder-Krankheiten ist, dass keine Balance zwischen den Anforderungen von Schule und Ruhephasen danach herrscht. Dazu kommt noch der Medienkonsum, der krank macht.

9. Das Wetter ist mies draußen. Was bietet die Wohnung an Bewegungsmöglichkeiten für Kinder?

Hoin:

Schön ist es, wenn Kinder die Wohnung verändern dürfen, also zwei Sessel zum Tor, zur Burg oder zum Trampolin umfunktionieren können. Oder wenn sie eine Hängematte im Flur haben oder vielleicht das Treppengeländer auf dem Bauch runterrutschen dürfen. Vielleicht kann man auch eine Stange im Türrahmen aufhängen. Eltern, die Beschwerden der Nachbarn fürchten, möchte ich Mut machen: Sie müssen nicht ständig Rücksicht nehmen und ihre Kinder deckeln und ruhig halten. Kindliche Lebensäußerungen gehören nach letzten Gerichtsurteilen zum Leben dazu.