Und noch mal Puccini: Die glamouröseste aller Sopranistinnen, Angela Gheorghiu, singt an der Staatsoper die Mimì in Guy Joostens “La Bohème“-Inszenierung

Was wäre die Oper, wenn sie nicht schöner, idealer wäre als das richtige Leben? Ein gerüttelt Maß an Idealisierung steckt sogar in dem, was der Komponist Giacomo Puccini seinem Biografen Fraccaroli von der Entstehung der "La Bohème" zu berichten wusste: "Willst du die volle Wahrheit wissen? Die Geburtsstunde war an einem Regentag, als ich nichts zu tun hatte und mich daran machte, ein Buch zu lesen, das ich nicht kannte. Der Titel lautete ,Scènes de la vie de bohème', der Autor hieß Henry Murger. Das Buch nahm mich sofort gefangen." Was für eine schöne Inspirationslegende.

Die schnöde Wahrheit allerdings ist, dass Puccinis Kollege Leoncavallo ihn auf das Sujet und Murgers Roman hingewiesen hatte. Leoncavallo präsentierte ihm sogar einen Libretto-Entwurf. Doch Puccini lehnte ab. So machte sich der "Pagliacci"-Autor selbst an die Vertonung. Da überlegte sein Freund es sich anders, entschied sich doch für den "Bohème"-Stoff - ohne Leoncavallo davon zu unterrichten - und stach den Urheber der Idee gründlich aus. Puccinis "Bohème" wurde ein Jahr früher fertig als Leoncavallos Version und ist heute eine der meistgespielten Opern; Leoncavallos "Bohème" ist allenfalls Kennern ein Begriff. Die Freundschaft der beiden Künstler zerbrach über diesem Verrat.

Murgers "Szenen aus dem Leben der Bohème" spielt in den Zeiten des "Juste Milieu" im Paris der 1840-Jahre. Die zynische Devise dieser Epoche hatte der Literat und Politiker François Guizot in zwei denkwürdige Worte gefasst: "Enrichissez-vous" (bereichert euch). Doch die Menschen, die Murger portraitierte, wollen sich diesem Motto nicht fügen. Verachtung bürgerlicher Werte, ein Leben für die Kunst, nicht fürs Geld, und freie Liebe sind die Maximen dieser Bohemiens und ihrer Grisettes. Um 1845/46, als Murger seine ersten Geschichten aus dem Künstlerleben veröffentlichte, wollte sie kaum jemand lesen. Erst als alle Utopien im richtigen Leben endgültig gescheitert waren, kam der Erfolg in der Kunst: Nach der erfolglosen Revolution 1848, als in Paris wieder ein Kaiser herrschte, wurde das pittoreske Künstlerleben als Bühnenfassung und Roman ein durchschlagender Erfolg.

Die Opern-Version des Veristen Leoncavallo hatte von der Sozialkritik der Vorlage noch einiges bewahrt; Puccini aber übergoss die Schilderung von Armut, Krankheit und Gelegenheitsprostitution mit dem idealen Glanz seiner Melodien. Wer heute zum Kern der Geschichte vordringen will, der muss ihn wieder freilegen, wie es der belgische Regisseur Guy Joosten 2006 in seiner Inszenierung an der Hamburgischen Staatsoper getan hat. Joosten verlegte den Stoff in eine sehr heutige Abrissbude. Nun hat die Staatsoper dessen Inszenierung für drei Abende wieder auf den Spielplan gesetzt.

Doch auch wer von Oper vor allem Glanz erwartet, wird an diesen drei Abenden auf seine Kosten kommen, denn die Mimì in dieser "Bohème" ist keine Geringere als die letzte große Diva unserer Tage: Angela Gheorghiu. "Willkommen beim glamourösesten Opern-Star der Welt." Mit diesem Satz wird der Besucher von Gheorghius Website begrüßt. Und in der Tat wird ihr Ruf nur noch überstrahlt vom unvergleichlichen Glanz ihrer Stimme. Da die Netrebko oder die Bartoli mehr den zugänglichen, volksnahen Star-Typ verkörpern, ist die Gheorghiu heute konkurrenzlos auf dem Thron der kapriziösen Primadonna.

Die Mimì in "Bohème" ist Gheorghius Paraderolle. Mit der Rolle der Mimì debütierte die Sängerin 1990 in ihrer rumänischen Heimat. 1996 heiratete sie während einer Aufführung der "Bohème" an der Met ihren zweiten Mann, den Star-Tenor Roberta Alagna. Im Frühjahr 2012 hat man nun nicht nur in Hamburg, sondern auch an den großen Bühnen in London, München und Barcelona Puccinis Künstlerrührstück aufs Programm gesetzt, um La Gheorghiu lieben und leiden zu hören.

Mit Regisseuren hat die Gheorghiu schon so einige Kleinkriege geführt, denn die Diva bekennt sich voll und ganz zum Idealismus in der Oper: "Die Menschen kommen in die Oper, um zu träumen", ist ihre Devise. Den Einwand eines Interviewers, ob Puccini nicht kitschig sei, konterte sie mit einem Temperamentsausbruch: "O Kitsch! Das ist nicht einfach schlechter Geschmack! Es geht hier um mehr Gefühl, um mehr Klang, um mehr Kraft, um viel, viel Farbe. Man leidet, man weint. Bei Puccini tut man all das." Und auch ihre göttliche Berufsbezeichnung trägt die Diva mit Stolz: "Ich bin Sängerin. Ich kann kein normaler Mensch sein. Die Musik, das Theater wäre ohne Diven nicht weitergekommen. Menschen brauchen Diven, jemanden, der anders ist als sie."

Wenn die Oper idealer ist als das wahre Leben, kann wohl auch ihre Hohepriesterin nicht nur ein normaler Mensch sein.

La Bohème 27.3., 30.3., 3.4., jeweils 19.30, Staatsoper. Karten unter T. 35 68 68