Das Hamburg-Bild in den Stücken des Ohnsorg-Theaters wirkt rückblickend wie aus der Welt gefallen. Es wurde von der harten sozialen Gangart des Kinos abgelöst

Heidi Kabel war eine Volksschauspielerin. Sie wollte auf der Bühne verkörpern, was die Menschen im Saal oder im Puschenkino der 60er-, 70er-Jahre in sich selbst sahen: Otto und Herta Normalzuschauer mit all ihren Hemmungen, Sehnsüchten, Ängsten, Sorgen und Nöten. Und sie wollte Humor nicht nur zeigen, sondern über die Rampe bringen, ohne hochtourige Comedy-Anstrengungen. Sie verfügte über die vielleicht bestimmende Eigenschaft des Volksschauspielers: dass er den Menschen im für ihn heikelsten Moment zum Lachen bringt - beim Blick in den Spiegel. Heidi Kabel war die Hamburger Volksschauspielerin. Mit ihr stirbt nicht nur eine Ära, mit ihr stirbt ein Beruf.

66 Jahre hat Heidi Kabel auf der Bühne gestanden. Ihre nahezu beispiellos lange Karriere spannt sich wie ein weiter Bogen gleich über mehrere Zeitalter nicht nur der Filmgeschichte, sondern auch der Stadtgeschichte Hamburgs.

Hamburgfilm-spezifisch gesehen bildet Heidi Kabel das Missing Link zwischen Hans Albers und Fatih Akin, zwischen "Große Freiheit Nr. 7" und "Soul Kitchen". Welten trennen diese Filme. Aber Heidi Kabel, eine Art hanseatische Superwoman, spannt sie auf wundersame Weise zusammen, durch ihre Persönlichkeit, durch ihre zentrale Stellung im Tableau der öffentlichen Wahrnehmung Hamburgs. Wer in den Jahren des Kalten Kriegs in der Pfalz, in Franken, am Bodensee oder in Thüringen sagen sollte, was ihm oder ihr zu Hamburg einfällt, hätte mit ziemlicher Sicherheit die Namen Uwe Seeler, Helmut Schmidt und Heidi Kabel genannt. Sie gehört so unverrückbar in unsere Stadt wie Willy Millowitsch zu Köln.

Das nach Schmierseife und düsteren Möbeln riechende Heimatgefühl der kleinen Leute, wie es die Ohnsorg-Übertragungen des Deutschen Fernsehens damals aus Hamburg in die Wohnstuben der Republiken links und rechts der deutsch-deutschen Grenze übermittelten, wurde erst in den mittleren 70er-Jahren abgelöst - durch die Filme des Regisseurs Hark Bohm. Der zeigte ein anderes, härteres Bild von Hamburg. Die vermeintlich heile Welt intakter Familien war gründlich in die Brüche gegangen, die soziale Wirklichkeit hatte sich unschön ins Bild gedrängt und ließ sich fortan nicht mehr wegschieben. In Bohms erstem Hamburg-Film "Nordsee ist Mordsee" (1976) blieb vom Meer als nasser Chiffre fürs Fernweh und Seefahrerromantik nicht mehr viel übrig. Und die längst Realität gewordene multikulturelle Gesellschaft mit ihren gewaltigen Konflikten fand hier in Gestalt des Jungen Dschingis Einzug ins Bewusstsein der Zuschauer.

Unzählige "Tatorte" und Polizeirufe und sonstige TV-Produktionen mit innigem Hamburg-Bezug löschten anschließend auf der Netzhaut der Zuschauer die Bilder vom hanseatischen Alltag à la "Tratsch im Treppenhaus" aus dem Ohnsorg. Auf der Gedächtnisfestplatte älterer Zuschauer konnten sie sich freilich halten.

Und Fatih Akin trug das Hamburg-Bild dann mit seinen ersten Kurzfilmen Mitte der 90er-Jahre und weithin sichtbar mit Spielfilmen wie "Kurz und schmerzlos", "Gegen die Wand" oder eben "Soul Kitchen" vollends in eine fiktionale, gleichwohl der sozialen Gegenwart dicht abgehörte Kinowelt.

Heidi Kabel schien da nicht mehr reinzupassen. Das Volk, aus der die Volksschauspielerin stammte, war abhanden gekommen. Die sozialen Verschiebungen und Verwerfungen der letzten 40 Jahre lassen die Schwänke und Stücke aus dem Ohnsorg im Rückblick wie Spielzeugtheater erscheinen. Sie zeigen eine seltsam irreal gewordene Welt - aus der Zeit gefallen wie jene Postkarten-Hafenkulissen, von denen aus Heidi Kabel noch im hohen Alter den "Jung mit'm Tüdelband" sang, "In Hamburg sagt man Tschüs" oder "Mein Hamburg, ich liebe dich".

Noch in der Zurückgezogenheit des Pflegeheims, in dem Heidi Kabel ihre letzten Lebensjahre verbrachte, blieb sie präsent. So scheint erst ihr physischer Tod jetzt mit 95 Jahren jene Zäsur zu markieren, für deren Benennung man um ein ziemlich großes Wort kaum herumkommt: das Ende eines Zeitalters.