Das Doppeljubiläum 2010/11 beschert uns einen Mahler-Boom. In vorderster Reihe dabei: das NDR Sinfonieorchester

"Muss man denn immer erst tot sein, bevor einen die Leute leben lassen?", fragte sich Gustav Mahler einst mit bitterer Ironie - als hätte er schon Anfang des 20. Jahrhunderts vorausgesehen, welch triumphale Wendung die Rezeptionsgeschichte seiner Werke nehmen sollte. Zwar war er mit der visionären Selbstgewissheit des großen Künstlers stets von der Gültigkeit seines Schaffens überzeugt und hatte seinen Anhängern sogar die viel zitierte Verheißung "Meine Zeit wird kommen" ins Stammbuch diktiert. Aber keine noch so starke Überzeugung, kein Größenwahn und keine prophetische Gabe konnten vorausahnen, in welchem Ausmaß Werk und Person dieses Komponisten im Laufe des Jahrhunderts Teil des kollektiven kulturellen Bewusstseins würden.

Mahler habe, so formuliert es der Hamburger Musikwissenschaftler Constantin Floros, in gewisser Hinsicht die Position eingenommen, die das 19. Jahrhundert dem seinerzeit ähnlich dominierenden Schaffen Beethovens zugebilligt habe. Das beginnt etwa bei der schöpferischen Aneignung durch jüngere Komponisten, die sich von der Fortschrittlichkeit und der stilistischen Breite seines Werks inspirieren lassen. Es umfasst aber auch eine Vorbildfunktion des Menschen und Musikers, der als der unbedingten künstlerischen Wahrheit verpflichteter Dirigent und Leiter wichtiger Kulturinstitutionen (wie der Hamburger und der Wiener Oper) zum stilprägenden Ideal, ja zum Idol geworden ist. Und es erstreckt sich nicht zuletzt auf den geistigen Gehalt seines Schaffens, das viele Menschen - zumal in einer immer stärker säkularisierten Welt - als Gegenentwurf zur um sich greifenden Nivellierung empfinden.

So gesehen ist der Siegeszug Mahlers keine Überraschung - es ist eine verdiente und geradezu zwangsläufige Popularität. Staunen erregt dennoch, zu welchen Steigerungen der Wertschätzung die Musikwelt nun aus Anlass eines Jubiläumsdoppeljahres fähig ist: 2010 feiern Musikfreunde in aller Welt zunächst Mahlers 150. Geburtstag (nämlich am 7. Juli) und gedenken schon im Jahr darauf, am 18. Mai 2011, seines 100. Todestages. Kaum ein bedeutendes Orchester will da abseitsstehen: "Mahler total" lautet schlicht und ergreifend die Parole unter Programmplanern und Dirigenten landauf, landab.

Auch Hamburg, das von 1891 bis 1897 Wirkungsstätte des Gefeierten war und sich deshalb neben Kassel, Leipzig, Budapest, Wien und New York zu den Mahler-Städten rechnet, will sich nicht lumpen lassen und hat einen eigenen Gesamtzyklus mit allen elf symphonischen Werken und einer Auswahl aus dem Liedschaffen zusammengestellt ( www.mahler-in-hamburg.de ). Für die Hansestadt ist dieser Mahler-Zyklus obendrein eine Leistungsschau der hier ansässigen Orchester. Denn während in vielen Städten ein regelrechter Reisetourismus in Sachen Mahler ausgebrochen ist, bei dem sich internationale Klangkörper die viel beschworenen Klinken in die Hand geben, setzt man an der Elbe vorwiegend auf die eigenen musikalischen Spitzenkräfte.

So fällt dem NDR-Sinfonieorchester die Ehre des Eröffnungskonzerts am 30. August zu. Unter der Leitung von Alan Gilbert spielen die Musiker das "Lied von der Erde" sowie die Siebte Symphonie von Jean Sibelius - eine Zusammenstellung, in der die stilistischen Eigenarten Mahlers gerade im Kontrast zu seinem Zeitgenossen Sibelius umso deutlicher hervortreten. Zudem erklingt damit erstmals das Programm der Abschlusskonzerte des Schleswig-Holstein Musik Festivals 2010 (28.8. Lübeck, 29.8. Kiel) im direkten Anschluss auch in Hamburg. Das schlägt einen Bogen zu den zahlreichen Mahler-Konzerten, die zuvor bereits den diesjährigen Festivalsommer bereichern.

Am 14. Juli etwa, eine Woche nach Mahlers 150. Geburtstag, spielt das Orchester des SHMF unter der Leitung des langjährigen NDR-Chefdirigenten Christoph Eschenbach die Fünfte Symphonie und begleitet keinen Geringeren als Thomas Hampson bei den fünf Rückert-Liedern (Hamburg, Laeiszhalle). Nur zwei Tage später präsentiert der nimmermüde Mahlerianer Eschenbach in Lübeck, ebenfalls mit dem Schleswig-Holstein-Festival-Orchester, seine Lesart der Ersten Symphonie.

Eschenbach ist auch der Mann der Stunde, wenn es gilt, Planeten und Sonnen zum Klingen zu bringen - die kreisen und jubilieren nämlich nach Mahlers eigener Vorstellung in seiner Achten Symphonie. "Es ist das Größte, was ich gemacht [habe]", beschied er seine Mit- und Nachwelt - und nahm sich kurzerhand die Freiheit, für sein erklärtes Hauptwerk die mit drei Chören, acht Solisten und einem Orchester über 100 Spielern umfangreichste Besetzung zu fordern, die bis dahin in der Symphonik gewagt worden war.

Weil diese Heerscharen den Konzertsaal schier sprengen, werden die Ensembles von NDR-Sinfonieorchester und Tschechischer Philharmonie zusammen mit den Chören des NDR und des SHMF, dem Knabenchor Hannover und dem Knabenchor Boni Pueri sowie den Philharmonischen Chören aus Prag und Brünn am 20. Mai 2011 die Hamburger O2-World-Arena bevölkern!

Das ist ein ebenso himmelstürmender wie angemessener Ausklang für den Hamburger Mahler-Zyklus - trieb den Komponisten bei seiner Achten doch weit Höheres um als die äußerliche Sensation. Die ins Gigantische gewachsene Besetzung bildet nämlich nur den Widerschein seines gedanklich-philosophischen Anspruchs, der sich nicht zuletzt in der Wahl der gesungenen Texte - des Pfingsthymnus "Veni, creator spritus" und der Schlussszene aus Goethes "Faust" - niederschlägt.

Nichts Geringeres als ein Gleichnis der Welt in Tönen, ein klingendes Sinnbild seines geistigen Universums, suchte Mahler in seinem Riesenwerk zu entwerfen. "Die Symphonie muss sein wie die Welt", sagte er 1907, im Jahr der Fertigstellung, zu seinem Komponistenkollegen Jean Sibelius. "Sie muss alles umfassen."

Mahler mit dem NDR Sinfonieorchester:

Das Lied von der Erde 30.8., Laeiszhalle

Sinfonie Nr. 9 23./26.9., Laeiszhalle

Sinfonie Nr. 6 9./12.12., Laeiszhalle

Sinfonie Nr. 4 10./11.2., Laeiszhalle

Sinfonie Nr. 5 24./27.2., Laeiszhalle

Lieder / Adagio aus der 10. Sinfonie 4.3., Laeiszhalle

Sinfonie Nr. 8 20.5., O2-World-Arena